0043 - Die Geister-Lady
lagen sie wach. Jeder wusste vom anderen, dass er nicht schlief, aber sie sprachen nicht miteinander, sondern dachten an ihre Zukunft, dachten an Milda und Oleg und dachten schaudernd auch an die weiße Frau…
Im Morgengrauen kam Pjotr Ulanow, um Tichon Sellnow abzuholen. Ulanow besaß einen uralten Moskwitsch. Da er sich sämtliche Reparaturen selbst machte, war der Wagen gut in Schuss.
»Na, ihr beiden. Gut geschlafen?«, fragte Ulanow grinsend. Als er die grauen Gesichter sah, dämpfte er seine morgendliche Freude.
»Tut mir Leid, was mit euren Nachbarn passiert ist«, sagte er gepresst. »Ihr wart befreundet mit ihnen, nicht wahr?«
Valentina nickte schweigend. Sie packte die Brote ihres Mannes in Papier ein und stopfte sie dann in seine Ledertasche.
»Können wir gehen?«, fragte Pjotr.
»Ich bin fertig«, sagte Sellnow. Er küsste seine Frau. Ulanow gab ihr die Hand. Dann stiegen sie in den Moskwitsch und fuhren zum Wald hinaus, wo Holz geschlagen werden sollte. Dreißig Waldarbeiter waren es, die eine Schneise in den dichten Taigawald dreschen sollten. Sie hatten ein gewisses Plansoll zu erfüllen. Wenn sie mehr Bäume schafften, wurden ihnen dafür Prämien verrechnet. An diesem Tag arbeitete Tichon Sellnow besonders fleißig. Er schwang seine Axt wie ein Besessener. Es ging ihm darum, bei der Arbeit seinen Kummer zu vergessen. Nicht denken wollte er. Nur nicht denken.
Sobald sich doch ein Gedanke in seinen Schädel stehlen wollte, steigerte er augenblicklich sein Arbeitstempo.
Zu Mittag saß er neben Pjotr auf einem gefällten Baum und verzehrte seine Brote.
Ulanow grinste. »Wenn du so weitermachst, bist du entweder in zwei Jahren ein kaputter Mann – oder ein neuer Held der Arbeit… so wie Stachanow.«
»Hattest du schon einmal Angst, Pjotr?«, fragte Sellnow mit belegter Stimme.
»Welche Art von Angst meinst du? Angst vor dem Altwerden? Angst davor, keine Frau zu kriegen? Angst vor einer schlimmen Krankheit, die den Körper zerstören könnte? Es gibt so viele Arten der Angst, Tichon.«
»Ich meine die Angst vor dem Ungewissen, Pjotr.«
Ulanow schüttelte den Kopf. »Damit weiß ich mir nichts anzufangen, Gospodin.«
»Glaubst du an unheimliche Dinge?«
»Du redest von Anja Plotkinowas Geist, nicht wahr?«
»Glaubst du an so etwas?«
»Nein.«
»Ich habe auch nicht daran geglaubt. Oleg Dagorski erzählte mir von der weißen Frau. Ich habe ihn ausgelacht und wollte seine Behauptung bewiesen haben. Er hat sie mir bewiesen, Pjotr. Ich habe die weiße Frau gesehen.«
Ulanow schaute Sellnow verblüfft an. »Im Ernst, Tichon?«
»Sehe ich so aus, als hätte ich Lust, zu scherzen?«
»Nein. Du siehst eher aus, als wäre dir der Teufel über den Weg gelaufen.«
»Das ist er mir, Pjotr. Und zwar in der Gestalt von Anja Plotkinowa. Wir haben sie in ihrem Frieden gestört. Nur deshalb, weil ich so verflucht neugierig und ungläubig war. Sie hat uns deshalb verflucht, Pjotr. Und bei den Dagorskis hat sich dieser Fluch bereits erfüllt.«
Ulanow riss die Augen auf. »Und nun denkst du, dass sie dir und Valentina etwas antun könnte?«
»Sie wird!«, sagte Sellnow heiser. »Ich gehe jede Wette ein, dass sie etwas gegen Valentina und mich unternehmen wird.«
Ulanow atmete schneller. »Und das sagst du so einfach? So unbekümmert, als würdest du über eine Demonstration in Moskau reden, die dich nichts angeht?«
Sellnow schlang den letzten Bissen hinunter. Ulanow reichte ihm die Schnapsflasche.
Er trank und fragte dann: »Was würdest du an meiner Stelle tun, Pjotr?«
»Ich würde trachten, von hier wegzukommen.«
»Das ist auch Valentinas Vorschlag.«
»Und was hast du im Sinn?«
Sellnow zuckte verzweifelt die Achseln. »Ich weiß es nicht, Pjotr. Ich weiß es wirklich nicht. Gestern Nacht habe ich Valentina versprochen, um meine Versetzung zu bitten, und ich werde es auch tun… weil ich es eben versprochen habe. Gleichzeitig aber weiß ich, dass ich bis ans Ende der Welt rennen könnte, und immer noch nicht weit genug von diesem Fluch entfernt wäre. Es heißt, dass jemand, der die weiße Frau gesehen hat, kein Glück mehr hat. Pech kann man überall haben, nicht nur in Nowosibirsk …«
»Vielleicht ist anderswo der Einfluss dieses unheimlichen Gespenstes nicht so stark.«
Sellnow nickte müde. »Ja. Valentina und ich werden von hier weggehen. Wir wollen wenigstens versucht haben, uns zu retten…«
Die Mittagspause war um. Alle Holzfäller nahmen wieder ihre Arbeit auf. Da
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