0043 - Die Geister-Lady
kalte Wind peitschte ihr Haar hoch. Sie schwitzte, obwohl über der Gegend der Frost klirrte. Mit schnellen, unsicheren Schritten erreichte sie die Scheune. Wild warf sie sich auf den Riegel. Sobald sie ihn zur Seite gefegt hatte, riss der Wind das Tor mit ungestümer Gewalt auf.
Atemlos hastete Milda Dagorskaja in die Dunkelheit der alten Scheune hinein. Das Tor ließ sie offen. Da sie sich immer intensiver einbildete, sie würde verfolgt, kletterte sie die Holzsprossen einer Leiter hoch. Stroh stach in ihre nackten Füße. Sie lief über morsche Bretter, die wackelten. Jeder unüberlegte Schritt war gefährlich, aber daran dachte die junge Frau nicht. In ihrer wahnsinnigen Furcht lief sie, so schnell sie konnte. Da prallte sie mit der Stirn gegen einen dicken Balken. Alles drehte sich um sie. Sie wankte, gleich darauf verlor sie das Gleichgewicht. Ihre Hände schossen vor. Sie glaubte, dass an ihren Fingern Blut klebte, und sie bildete sich ein, es wäre das Blut ihres verunglückten Mannes. Verstört torkelte sie zurück. Ihr Fuß trat auf ein loses Brett. Es schnellte hoch. Milda Dagorskaja hatte plötzlich keinen Halt mehr unter den Füßen, sie kippte seitlich weg und fiel genau in die glatten Zinken einer aufgestellten Mistgabel.
Erst am nächsten Morgen wurde sie gefunden, von der Mistgabel durchbohrt, steif und kalt. Die Miliz sah es als einen bedauerlichen Unfall an. Aber die Leute aus der Nachbarschaft wussten es besser.
Der Spuk der weißen Frau hatte Milda Dagorskaja in den Tod getrieben. Es lief wie ein Feuer durch die Gegend: Im Haus der Dagorskis spukt es! Wagt euch nicht hin, sonst geht ihr genauso zugrunde wie Oleg und Milda.
***
Der zweite Vortrag wurde von den russischen Studenten ebenso begeistert aufgenommen wie der erste. Gleich nach dem Vortrag entwischte Professor Zamorra seinem russischen Kollegen. Er streifte wieder durch die Weite des Landes, fragte hier und da mit größter Vorsicht nach dem jungen Ingenieur, verbrachte den ganzen Tag außerhalb von Akademgorod und kam müde und erschöpft spätabends nach Hause. Der Empfangschef hatte eine Nachricht für ihn. Professor Jakowlew wäre dreimal dagewesen. Beim dritten Mal wäre er ziemlich verärgert weggegangen. Zamorra machte sich auf einen Wust von Vorwürfen gefasst, als er tags darauf die Universität betrat. Aber an diesem Tag – es war der dritte – wollte der Vortragssaal schier platzen, so voll war er. Namhafte Männer, hohe Parteifunktionäre waren teilweise aus Moskau eigens wegen Zamorra hierher gekommen, um sich seine interessanten Ausführungen über Parapsychologie anzuhören.
Drei Tage waren schon verplempert. Und Zamorra hatte immer noch keine Spur von Semjon Muratow entdeckt. Wenn diese Erfolglosigkeit anhielt, würden fünf Tage herumgehen, und Zamorra würde ohne den jungen Ingenieur aus Russland ausreisen müssen. Der Professor sträubte sich verbissen gegen dieses deprimierende Zukunftsbild. Er hoffte im Augenblick, dass Kyrill Vitali ebenso wenig erfolgreich war wie er, denn dann hatte Muratow wenigstens noch eine kleine Chance.
An diesem dritten Tag gab es einen Empfang zu Ehren von Professor Zamorra. Niemand ahnte, wie ungelegen ihm das kam. Ein Tag!
Ein ganzer Tag sollte ungenützt verstreichen. Wie wenig Zeit doch fünf Tage für solch eine schwierige Aufgabe sind.
Als es Abend wurde, trat der junge Semjon Muratow aus dem dunklen Unterholz der Taiga. Von einem halb blinden alten Mann hatte er erfahren, dass es am Rande von Nowosibirsk ein Haus gab, in dem es angeblich spukte. Durchgefroren und hungrig fand er seinen Weg dorthin. Nahe dem Haus legte er sich auf die Lauer. Er sah die Scheune, in der Milda Dagorskaja ums Leben gekommen war.
Und er sah – am Ende der Straße – die Druckerei, in der Oleg Dagorski das Opfer eines tödlichen Unfalls geworden war. Wenn zwei Menschen so knapp hintereinander sterben, müssen einfältige Gemüter einfach auf die Idee kommen, dass hierbei der Teufel oder irgendein Geist seine böse Hand im Spiel hatte.
Semjon konnte das nur recht sein. Ein Gebäude, das als Spukhaus verschrien war, wurde von der Bevölkerung furchtsam gemieden.
Ein besseres Versteck konnte sich Semjon Muratow gar nicht vorstellen.
Flach lag er in einem Straßengraben und beobachtete das Haus.
Der frostige Wind strich über ihn hinweg, verfing sich in dunklen Fugen am Gebäude und rief ein gespenstisches Heulen hervor. Ein Mann kam die Straße entlang. Er ging ziemlich flott, doch als er in
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