0043 - Die Geister-Lady
behauptete, seine Frau würde das Klima nicht vertragen, und der Vorarbeiter, ein hilfsbereiter, verständiger Mann, versprach, sich für Tichon Sellnow, dessen zähen Fleiß er bewunderte und schätzte, zu verwenden.
Als die Dämmerung einsetzte, brachte Pjotr Ulanow den Freund nach Hause. Er hielt den Moskwitsch vor Sellnows Haus.
»Soll ich noch mit hineinkommen?«, fragte er.
»Ich will nicht unhöflich sein…«
»Du, möchtest mit ihr allein darüber reden?«
»Ja.«
»In Ordnung. Ich hole dich morgen früh wieder ab.«
»Gut, Pjotr.«
»Um dieselbe Zeit wie immer.«
»Ja, Pjotr… Und … vielen Dank für das, was du heute für mich getan hast. Ohne dich wäre ich …«
»Was ich getan habe, war selbstverständlich, Tichon. Dafür brauchst du dich nicht bedanken. Jeder andere Genosse hätte dasselbe getan. Und du hättest ebenso gehandelt, wenn ich in dieser Lage gewesen wäre. Warum also Dank? Morgen kann es schon mir passieren, und dann wirst du eben mich retten.«
Sellnow nickte langsam und stieg aus. Er schaute auf sein Haus.
Hinter ihm sagte Ulanow: »Bring es ihr schonend bei, hörst du? Du darfst sie nicht gleich wie ein Panzer von der Roten Armee überfahren. Du musst es ihr tropfenweise eingeben, denn es ist eine verflucht bittere Medizin, die sie da schlucken soll.«
Wieder nickte Sellnow. Der Moskwitsch seines Freundes rollte an und fuhr davon. Bald war er verschwunden. Tichon setzte sich mit hölzernen Beinen in Bewegung. Jetzt, wo er allein war, wo ihn niemand störte, konnte sich der erlittene Schock erst richtig ausbreiten.
Den ganzen Tag über hatte er tapfer die Zähne zusammengebissen, damit die anderen nicht sahen, wie es in ihm aussah. Doch nun konnte er sich nicht mehr länger beherrschen. Er lehnte sich mit geballten Fäusten und zusammengepressten Kiefern an die Hauswand und war nahe daran, zu weinen. Erst die Kälte machte ihm klar, dass er hier draußen nicht bleiben konnte.
Es fiel ihm auf, dass im Haus zwar Licht brannte, Valentina aber nicht an die Tür gekommen war, um ihn zu begrüßen, wie sie das sonst immer tat.
Plötzlich zog sich seine Kopfhaut zusammen. Wer sagte, dass er vor Valentina sterben würde? Wer sagte, ob die weiße Frau sich nicht zuerst an ihr rächen würde?
Verstört riss er die Tür auf und stürmte in sein Haus. »Valentina!«, brüllte er verzweifelt. »Valentina! Täubchen! Wo bist du? Wo steckst du? Valentina!« Er rannte wie verrückt durch das Haus, schaute in jeden Winkel, Valentina war nicht da. Heilige Madonna von Kasan!
Valentina war verschwunden! Nur verschwunden? Oder vielleicht schon tot?
»Valentina! Valentina!«
Schritte. Sie kamen die Kellertreppe hoch. Dann erschien Valentina. Unversehrt. Erstaunt, dass er so brüllte. Sie trug eine Gummischürze, hatte unten Wäsche in den Holztrog getan.
»Warum plärrst du wie ein Wahnsinniger?«, fragte sie ihn. Er rannte auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Er presste sie so innig an sich, dass sie keine Luft bekam. Er küsste ihre Stirn, ihre Augen, ihre Nase und den Mund. Immer wieder den Mund.
»Valentina! Mein Gott, Valentina!«
»Was ist denn bloß los mit dir, Tichon?«
»Du warst nicht da. Ich habe dich gerufen. Du hast keine Antwort gegeben! Ich dachte… ich dachte, es wäre dir etwas … zugestoßen.«
Sie bot ihm ihre Lippen. »Mein guter, guter Tichon«, seufzte sie. Er bekam von ihr Borschtsch und saures Schweinefleisch. Hinterher rauchte er eine Papirossa. Sie brachte ihm seinen Wodka. Er wollte nicht trinken, weil ihm der Schnaps seiner Freunde noch im Blut rollte, aber er wollte auch nicht, dass Valentina stutzig wurde. Und das wäre sie geworden, wenn er von seinen alltäglichen Gewohnheiten abgewichen wäre. Deshalb trank er wie immer.
»Nawoss!«, knurrte er, nachdem er die Papirossa in den Ofen geworfen hatte. Nawoss – das heißt »Scheiße«. Jeder Russe verwendet dieses Wort. Valentina überging es. Sie fragte ihn: »Hast du etwas wegen deiner Versetzung unternommen?«
»loh habe mit dem Vorarbeiter gesprochen.«
»Und? Welchen Grund hast du ihm genannt?«
»Ich sagte ihm, du würdest das Klima nicht besonders gut vertragen.«
»Wird er uns helfen?«
»Er hat versprochen, sich für mich zu verwenden.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Das kann niemand sagen. Manchmal geht es sehr schnell. Dann dauert es wiederum einige Monate. Kommt ganz darauf an, wie anderswo Leute gebraucht werden.«
Valentina schluckte trocken. »Monate…«, sagte sie
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