0048 - Ausflug ins Jenseits
anderen Seite des Caledonian Channel. Geschäftstüchtige Händler hatten am Loch Ness eine wahre Fremdenverkehrsindustrie aufgezogen.
Souvenirstände verkaufen Nessie-Postkarten, -Anhänger und -Maskottchen, Zeichnungen des Seeungeheuers und allen möglichen Krimskrams. Wer wollte, konnte sich vor einer künstlichen Nessie-Figur am Seeufer fotografieren lassen.
Professor Melibocus verabscheute diesen Rummel.
»Alles Unsinn«, sagte er. »Wenn ich wollte, und wenn es im Loch Ness tatsächlich eine riesige Seeschlange gibt, dann könnte ich sie sehr wohl an die Oberfläche locken.«
Der pensionierte Schullehrer und andere hatten es gehört.
»Oho«, sagte der Lehrer. »Sie nehmen den Mund aber reichlich voll, Professor. Wie wollen Sie denn das anfangen?«
»Mit einer Beschwörung. Ich verstehe mich nämlich auf die Weiße Magie.«
Die Zuhörer lachten ihn aus. Jetzt wurde Professor Melibocus wütend.
»Wir können es ausprobieren. Bei der Bootsfahrt. Ich bin dazu bereit.«
Die Mitreisenden hörten nicht auf zu sticheln. Ich ließ den Professor gewähren, ich glaubte nicht, dass er ernsthaft etwas bewirken konnte. Am Landungssteg wartete bereits das Flachboot. Außer unserer Reisegruppe waren nur wenige Besucher anwesend. Das Boot hatten wir für uns allein.
Thomas Argyll fuhr nicht mit auf den See, er blieb beim Bus zurück. Meinen Einsatzkoffer trug ich bei mir, ich traute Argyll nämlich zu, dass er ihn kurzerhand in den See warf. Er war ein Dämon, wenn er seine Ausstrahlung auch gut tarnte, und er musste spüren, dass sich in diesem Koffer magische Mittel befanden. Der Himmel war grau und Wolkenverhangen. Ein kalter Wind pfiff von Norden her, als wir auf den See hinausfuhren. Loch Ness hatte stellenweise eine Tiefe von mehreren hundert Metern, es gab Unterwasserhöhlen und unberechenbare Strömungen. Dieser See war tückisch und unberechenbar.
Ein Mann steuerte auf der erhöhten Kommandobrücke am Heck das Boot mit dem starken Außenbordmotor. Der einheimische Fremdenführer hielt einen Vortrag über Loch Ness. Mit Ultraschall, mit Sonar und mit allen möglichen Mitteln hatte man schon versucht, Nessie zu orten. Sogar Ein-Mann-U-Boote waren eingesetzt worden. Bisher alles vergebens, einen unwiderlegbaren Beweis für Nessies Existenz gab es nicht.
Ich glaubte nicht an die Existenz der Seeschlange, denn wovon hätte sie sich in diesem für ihre Größenverhältnisse kleinen See ernähren sollen?
Weit draußen stoppte das Boot. Der rotgesichtige Mann mit den Fotoapparaten knipste in einer Tour. Er entwickelte seine Filme anscheinend meterweise.
Jane Collins stand, in ihre Ozelotjacke eingemummt, mit buntgemustertem Kopftuch, neben mir an der Bordwand.
Ich hatte den Kragen der Wildlederjacke hochgestellt, der Wind zauste mein Haar. Wellen klatschten gegen die Bordwand.
»Nessie, Nessie, komm, gib Pfötchen!« lockte einer der drei Studenten.
Die jungen Männer lachten. Aber dann hatte Professor Melibocus seine große Stunde. In seinen karierten Sherlock-Holmes-Überzieher eingehüllt, trat der lange Professor aufs Vorderdeck. Er setzte den Hut ab.
»Ich bitte um absolute Ruhe!« gellte seine Fistelstimme. »Ich muss mich konzentrieren. Den gewünschten Effekt hervorzurufen, ist nicht leicht. Aber es wird mir gelingen. Selbstverständlich halte ich Nessie in Schach und schicke sie wieder in die Tiefen des Sees zurück, falls sie auftaucht.«
»Selbstverständlich«, knurrte Tony Lamarre und spuckte ins Wasser. Er zog seinen Flachmann aus dem Pelzmantel und nahm einen Schluck. »Dieser Professor ist genauso dämlich, wie er lang ist.«
Alle grinsten, als Professor Melibocus die Arme ausbreitete, sich dem See zuwandte und beschwörende Worte rief. Da er sich öfters mal irrte, stand Fitz Fitzgerald mit dem Notizbuch hinter ihm und soufflierte.
Der Höhepunkt der Beschwörung lautete: »Ungeheuer von Loch Ness, wo immer du auch bist, im Diesseits oder im Jenseits, im Namen der guten und der bösen Geister, der Mächte der Finsternis und des Lichts, erscheine! Ich, Hieronymus Adolf Melibocus, Meister der Weißen Magie, gebiete es dir!«
Der Fotoenthusiast knipste eifrig. Ein Rabe flog krächzend über den See, und dann bewegte sich das Wasser. Etwas Riesiges erschien von unten, mächtige Wellen ließen das Boot schwanken. Schreie gellten, die Menschen flüchteten auf die andere Seite, und der Kahn neigte sich. Doch nichts geschah mehr.
Professor Melibocus beugte sich über die Bordwand.
»Psi krev,
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