005 - Tagebuch des Grauens
gebe nicht auf. Wieder mache ich die Tür zu. Ich schaudere, während ich angestrengt nachdenke. Ob ich vor Angst oder vor Kälte schaudere, weiß ich nicht.
Nein, ich darf nicht aufgeben. Kein Hindernis soll mich aufhalten. Jetzt werde ich mich nicht mehr verlaufen. Ich brauche ja nur der Wand zu folgen. Ich werde es nicht noch einmal riskieren, geradeaus zu gehen und mich zu verirren.
Die Mauer wird mich leiten. Ich werde sie nicht mehr verlassen, bis ich die andere Tür erreicht habe.
Ja, so wird es gelingen.
Jetzt weiß ich, wo ich bin. Langsam gehe ich los. In der ersten Ecke, es ist die rechts von der Tür, bleibe ich einen Augenblick stehen. Jetzt schlägt mein Herz wieder ruhig.
Ich setze meinen Weg fort. Wie lange bin ich nun schon unterwegs? Ich weiß es nicht.
Weiter, vorwärts! Noch eine Ecke, und dann werde ich die Tür erreicht haben.
Der Wind fährt durch die Ritzen des Schuppens. Die alten Bäume werden von unsichtbaren Fäusten geschüttelt und stöhnen ohne Unterlass.
Eine schreckliche Nacht.
Nur weiter. Zwei Schritte, drei.
Endlich habe ich die Tür erreicht. Fast liebevoll streiche ich über das Holz.
Es ist mir unbegreiflich, dass es mir nicht gleich beim ersten Versuch gelungen ist, sie zu erreichen.
Vorsichtig öffne ich die Tür. Ich bin bereit, beim leisesten Quietschen innezuhalten. Sie geht geräuschlos auf. Ich schlüpfe hindurch.
Vorsicht! Ich muss sie leise schließen.
Das kleinste Geräusch kann Michel wecken.
Jetzt vermag ich wieder völlig klar zu denken. Ich schäme mich, dass ich daran dachte, mein Unternehmen aufzugeben. Die Angst, die ich soeben im Schuppen ausgestanden habe, erscheint mir jetzt unbegreiflich.
Ich bin nun im Hausflur. Vor mir ist die Tür zur Küche, daneben die Treppe, die in die erste Etage führt. Es sind etwa fünfzehn hölzerne Stufen.
Meine Rechte gleitet an der Wand entlang. Ich will sie nicht mehr verlassen. Jetzt kann ich mich zwar bestimmt nicht mehr verirren, aber ich will mich trotzdem an der Mauer halten.
Die Uhr im Esszimmer tickt regelmäßig, wie ein Herz, das schlägt. Alles ist dunkel. Die Vorhänge sind geschlossen und lassen das schwache Licht von draußen nicht herein.
Noch ein Schritt. Vorsicht, jetzt muss gleich die Treppe kommen.
Ah, da ist sie! Mein Fuß ist gegen die unterste Stufe gestoßen.
Sie knarrt, als ich sie betrete. Erschrocken bleibe ich stehen. Hat Michel auch nichts gehört?
Kein Geräusch ist zu vernehmen. Nur das Ticken der Uhr durchdringt die Stille und das Knistern der Scheite, die im Kamin verglühen.
Michel schläft. Ich spüre es.
Vorsichtig setze ich den Fuß auf die äußerste Ecke der Stufe. Dann kann sie nicht knarren. Unter meiner Rechten befindet sich das Holzgeländer. Es leitet mich.
Ich zähle die Stufen. Nur noch zwei, nun eine … Ich bin im ersten Stock.
Jetzt kommt der letzte Teil meines Vorhabens. Vor allem darf Michel nicht aufwachen.
Es dauert ein paar Sekunden, bis mein Atem wieder ruhig geht. Ich rühre mich nicht und warte darauf, dass meine Nervosität sich legt.
Aber ich werde nicht ruhiger.
Schließlich setze ich mich wieder in Bewegung. Sehr langsam schleiche ich weiter.
Soll ich Michel wecken oder nicht?
Es ist unheimlich, durch den finsteren Gang zu gehen und nur das Heulen des Windes zu hören. Ich muss noch einmal stehen bleiben.
Von der Treppe aus habe ich zwei Schritte zurückgelegt. Ich befinde mich im Gang des ersten Stocks. Nun lehne ich mich an die linke Wand.
Ich denke nach. In wenigen Minuten werde ich nicht mehr so vorsichtig sein müssen. Michel wird dann nicht mehr aufwachen können. Er wird den ewigen Schlaf schlafen. Dann kann er niemandem mehr etwas Böses tun.
Eine närrische Hoffnung erfüllt mich. Vielleicht rette ich Suzanne durch seinen Tod.
Suzanne! Ich schließe die Augen. Nein, ich darf jetzt nicht an sie denken, es sei denn, um mich dadurch in meinem Entschluss bestärken zu lassen.
Was ist das?
Am Ende des Ganges sehe ich plötzlich einen hellen Schein. Ich kann nicht erkennen, was es ist.
Doch, es ist oval, und einzelne Stellen sind heller als ihre Umgebung. Das Ding schwebt regungslos in zwei Meter Höhe über dem Boden.
Langsam nimmt es genaue Formen an. Jetzt erkenne ich, was es ist.
Es ist ein riesiger Mund. Er ist geöffnet und lässt zwei Reihen weißer Zähne sehen.
Ich träume anscheinend.
Nein, ich weiß genau, dass ich nicht träume. Ich bin wach. Schweißtropfen stehen auf meiner Stirn.
Ich schließe die
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