005 - Tagebuch des Grauens
Experiment gemacht.
Suzanne schlief. Ich habe die Lampe ausgeknipst.
Schon nach einer Minute schien Suzanne zu spüren, dass das Licht nicht mehr brannte.
Sie bewegte sich unruhig. Ich ließ sie nicht aus den Augen.
Und dann schrie sie. Es war grauenhaft, unmenschlich. Diesen Schrei möchte ich nicht noch einmal hören.
Sie wurde ganz steif, und ich fürchtete, dass sie sterben würde.
Schnell machte ich das Licht wieder an. Ich zitterte am ganzen Leib.
Suzanne war ohnmächtig geworden. Mit weit auf gerissenen Augen lag sie neben mir, wie tot.
Ich habe dieses Experiment nie wiederholt.
Manchmal schrecke ich nachts aus dem Schlaf und sehe nach, ob die Lampe brennt. Sie scheint mir wie ein Symbol für Suzannes Leben.
Sie brennt die ganze Nacht und erfüllt den Raum mit schwachem Licht, gerade hell genug, dass man die gegenüberliegende Wand noch sehen kann.
An dieser Wand zeichnen sich alle Schrecken Suzannes ab. Dort entsteht das Unsichtbare, das sie umbringt.
Denn ich weiß jetzt, dass diese Dinge ihren Tod herbeiführen werden.
Ich habe versucht, ebenfalls das zu erblicken, was sie sieht, doch vergeblich.
Nur einmal habe ich einen hellen Fleck gesehen, der sich dann in der Ferne aufzulösen schien.
Aber vielleicht habe ich auch nur geträumt, oder ich wollte unbedingt etwas erblicken und habe es mir deshalb nur eingebildet.
Ich habe Suzanne natürlich auch gefragt, was sie sieht.
Sie weiß es nicht. Sie kann mir keine genaue Antwort geben, weil sie sich hinterher an nichts erinnern kann.
Suzanne weiß aber, dass ich sie verteidigen könnte, dass ich versuchen würde, ihr zu helfen. Trotzdem vertraut sie sich mir nicht an. Glaubt sie vielleicht, dass ich machtlos sei den unsichtbaren Gewalten gegenüber?
Ist Suzanne vielleicht wahnsinnig?
Am liebsten würde ich sie wecken, um ihre Stimme zu hören. Ich möchte mich vergewissern, dass sie auch wirklich noch lebt. Dass sie nicht schon ein lebender Leichnam ist.
Nein, ich darf es nicht tun. Sie würde erschrecken. Verstört würde sie in die Höhe fahren und den Blick auf einen bestimmten Punkt richten. Etwas, das ich nicht erblicken kann, würde sie mit Grauen erfüllen.
Warum kann sie nicht immer so gut schlafen wie heute? Sie isst nichts mehr und ist schrecklich abgemagert.
Wieder zerbreche ich mir den Kopf über Möglichkeiten, ihr zu helfen. Mir fällt nichts ein.
Nur ein Name: Michel.
Ob er weiß, was er angerichtet hat? Welches Leid er uns beiden zufügt?
Woher soll ich es wissen? Man kann ihm nie am Gesicht ablesen, was er denkt. Es ist undurchdringlich wie das einer Statue.
Manchmal leuchten seine Augen auf. Er weiß es und senkt die Lider. Man wird nicht klug aus ihm.
Wenn er mich mit Suzanne betrogen hätte, würde ich ihm verzeihen. Ja, ich würde ihm wirklich verzeihen.
Doch das, was er ihr angetan hat, verzeihe ich ihm nie. Niemals!
Ohne das Heft wüsste ich nicht, was geschehen ist. Zufällig habe ich es gefunden. Suzanne hat ihm ihre Gedanken seit dem 4. Januar anvertraut. Warum? Damit ich es lese. Damit ich sie räche.
Ja, so ist es. Sie hat mir einen Auftrag gegeben. Sie will, dass ich sie räche.
Ich habe dieses Heft wohl an die hundert Mal gelesen. Suzanne weiß nichts davon. Ich kenne seinen Inhalt auswendig. Manchmal sage ich mir im Stillen eine Passage daraus vor. Es ist mir unbegreiflich, dass sie das alles ausgehalten hat, dass sie nicht sofort tot umgefallen ist.
Ich hätte es bestimmt nicht ausgehalten.
Suzanne ist ein starker Charakter. Aber auf die Dauer wird sie dem allem nicht standhalten können. Sie verbraucht sich mehr und mehr.
Sie wollte mir Kummer ersparen und hat mir nichts davon gesagt. Aber jetzt weiß ich es.
Ich weiß, dass sie in der Nacht vom 3. zum 4. Februar sterben wird.
Sie hat es selbst geschrieben. Ihre Schrift hat dabei nichts von ihrer Deutlichkeit eingebüßt. Die Hand, die den Stift führte, hat nicht gezittert. Suzanne hat keine Angst vor dem Tod.
Aber ich habe Angst vor ihrem Tod. Was soll aus mir werden ohne sie?
Ich muss sie retten.
Aber das kann ich nur, wenn ich Michel töte. Ja, es muss sein.
Wenn ich das vollbracht habe, wird alles sich zum Besten wenden. Dann muss Suzanne vielleicht nicht sterben. Dann darf sie leben. Wenn das schicksalhafte Datum vorbei ist, ohne dass ihr etwas zugestoßen ist, wird sie weiterleben.
Ich will, dass sie lebt!
Ich streiche mir über die schweißnasse Stirn. Was mag sie träumen, dass sie so gequälte Seufzer von sich gibt? Was weiß
Weitere Kostenlose Bücher