0055 - Die Nacht der gelben Kutten
folgte dem schmalen Trampelpfad, der sich vor ihr entlangzog, und bewunderte die Fülle der herrlichen Formen und Farben.
Aber noch glaubte sie nicht daran, daß der kleine Pfad weiter zum Wasserfall führen würde. Schon wollte sie sich umdrehen und zurückgehen, um nach Shandri Ausschau zu halten.
Da sah sie plötzlich etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Wie von der Kraft eines Magiers angezogen, ging ihre rechte Hand nach unten.
Sie löste den kleinen dünnen Gegenstand, der sie stutzig gemacht hatte, aus der Umschlingung einer dichten, dunkelgrünen Pflanze.
Der Gegenstand war nichts weiter als ein kleiner Wollfaden. Aber für Nicole bedeutete er mehr. Er war der Beweis, daß vor nicht langer Zeit ein Mensch hier oben gewesen sein mußte.
Der Faden war von der widerborstigen Pflanze aus dem Gewand eines Menschen gerupft worden. Es konnte sich um einen Mann oder auch um eine Frau handeln.
Hier trugen Männer wie Frauen lange Gewänder. Nur bei der Ernte legten die Männer die schmalen, geschlungenen Lendenschurze aus Wolltuch an.
Unwillkürlich mußte Nicole an die gelbgekleideten Mönche denken. Ob dieser Faden von einem solchen Mönchsgewand herrührte?
Mit Schaudern dachte sie daran, ohne Zamorras Schutz plötzlich einem der falschen Mönche gegenüberzustehen.
Nicole suchte weiter. Und wirklich fand sie, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, einen weiteren Beweis.
Diesmal war es nicht nur ein Wollfaden, sondern ein ganzes Fadenbüschel, ein kleines rechteckiges Stück aus demselben gelben Stoff.
Nun war Nicoles Jagdlust geweckt. Sie spürte, daß sie einem Geheimnis von großem Ausmaß auf der Spur war.
Aber wie sollte sie vorgehen? Zamorra hatte ihr gesagt, daß sie mit Shandri nach anderthalb Stunden zum Treffpunkt zurückkehren sollte. Die Hälfte dieser Zeit war längst verstrichen. Die zweite Hälfte der Zeit würden sie für den Rückweg brauchen.
Eine Minute nur, sagte sie zu sich. Wir werden uns dann beeilen.
Ich will nichts auf eigene Faust unternehmen. Zumindest muß ich Shandri oder noch besser den Professor als Schutz in meiner Nähe haben.
Aber nur diese eine Minute noch, entschied sie. Sie tat noch ein paar Schritte, fand aber nichts mehr von den Stoffäden.
Bis ihr plötzlich etwas anderes auffiel. Vor ihr waren ein paar Lianen mit daran wachsenden Orchideen so angebracht, daß man nicht auf einen natürlichen Wuchs schließen konnte. Hier hatten Menschenhände eine gewisse Anordnung geschaffen.
Schnell ging Nicole auf die querhängenden Lianen zu. Griff mit der Hand danach. Zog die Pflanzen beiseite.
Und sah die Hängebrücke vor sich liegen!
Im ersten Augenblick war sie zu erstaunt, um den erhobenen Arm mit dem einfachen, aber wirksamen geheimen Tor zur Hängebrücke wieder sinken zu lassen.
Sie fragte sich noch, ob sie es wagen sollte, die Brücke zu betreten.
Wer diese Brücke angelegt hat, mußte seine guten Gründe dafür gehabt haben, dachte Nicole. Sonst hätte er sie nicht so versteckt angelegt. Nicht hinter den Wassern, die sich in die Tiefe stürzten. Er hätte sie direkt über den Wasserfall und den See gespannt.
Aber hier, hinter dem Wasserfall, genau zwischen dem weit ausholenden Bogen, den das Wasser beschrieb, und dem Felsenmassiv?
Das mußte ein Geheimnis bedeuten!
Die Zeit! mahnte Nicole sich selbst. Die kurze Minute mußte längst vergangen sein!
Ich muß zurück, sagte sich das Mädchen. Ich muß Shandri davon erzählen, und dann werden wir den Professor holen.
Aber Nicole war schon eine Minute zu lang erstaunt und nachdenklich am Aufgang zur Brücke geblieben.
Sie wußte es, als sie eine Stimme hinter sich hörte.
»Geh weiter!« sagte die heisere, rauhe Stimme.
Sie gehörte Batak, dem neuen Anführer der Gelben Furien.
***
Als Batak das fremde Mädchen sah, wußte er, daß sich sein Herrscher nicht getäuscht hatte. Er hatte gemeint, Stimmen gehört zu haben. Und er hatte Batak losgeschickt, um die Brücke zu bewachen.
»Ich habe dich kommen sehen«, sagte Batak und bleckte genüßlich die Zähne. »Ich habe dich gehört, und ich habe dich gesehen, wie du aus dem Tal heraufgekommen bist. Und nun habe ich dich. Wo ist dein Begleiter?«
Blitzschnell überlegte Nicole. Konnte sie lügen? Sollte sie vorgeben, allein hier oben zu sein, in der Einsamkeit des Waldes und der Felsen? Das würde ihr niemand abnehmen.
Aber wen meinte der Fremde mit ihrem Begleiter? Hatte er den jungen Tamilen gesehen? Oder wußte er, daß sie mit Zamorra hier
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