006 - Der Fluch der blutenden Augen
einen Gegner in diesen Minuten ein hilfloses
Bündel. Es mussten mindestens zehn Stunden gewesen sein, die er in dem
stockfinsteren Gefängnis verbracht hatte.
Seine Augen erfassten ein verschwitztes braungebranntes, stoppelbärtiges
Gesicht. Dahinter die typische Umgebung eines Lagerschuppens. Durch eine Ritze
in der Wand fiel schwaches Tageslicht. Man nahm ihm die Fesseln ab.
Der Fremde fletschte seine Zähne. »Wie fühlen Sie sich, Mister Robertson?«
Larry nickte, er war noch nicht fähig zu sprechen. Er sah, dass mehrere Kisten
geöffnet waren, dass der Inhalt wahllos auf dem Boden verstreut lag und – dass
zwischen den Stoffen und Gegenständen, zwischen den Paketen, ein Mensch lag.
»Einer von Rasmandahs Leuten, der die Wache hielt«, sagte der Inder, der
ihn aus der Tonne geholt hatte. X-RAY-3 kam aus den Überraschungen nicht
heraus.
»Es ist nicht viel Zeit, um lange Erklärungen zu geben. Es kann sein, dass
andere Leute von Rasmandah auftauchen. Ich soll Sie in Sicherheit bringen,
Sahib. Ihr Freund wartet auf Sie, Mister Henry Waverlean – der Mann, mit dem
Sie die Forschungsreise in den Tempel der
Toten unternommen haben.«
Larry Brent schluckte. Er begriff nichts mehr. Aber offenbar hatte er von
dieser Seite her nichts zu befürchten. Man hatte ihn befreit, man schien davon
unterrichtet gewesen zu sein, dass Rasmandah eine große Schweinerei mit ihm im
Schild geführt hatte.
»Kommen Sie schnell!« drängte Larrys Befreier. Er huschte zur Tür der
Lagerhalle und schob sie spaltbreit auf.
Das letzte Tageslicht drang in Larrys Augen. »Wo sind wir hier?« wollte er
wissen.
»In Jaigur. Ich soll Sie nach Abu bringen. Da steht der Jeep.«
Larry sah das verschmutzte Gefährt am Tor der gegenüberliegenden
Lagerhalle. Er nickte, während er mit steifen Beinen über den staubigen Weg
stakste. Das Ganze war ihm sympathischer, als eine Minute länger in der
finsteren Tonne zu bleiben, in der ihm jeden Augenblick der Sauerstoff hätte
ausgehen können. Der europäisch gekleidete Inder, dem Aussehen nach ein Typ des
Dekhans, ein Telegu, klein und zierlich gebaut, aber flink, der die Augen
überall hatte, winkte ihm zu folgen. Larry kroch in den Jeep, er war zu einem
federnden Sprung noch nicht in der Lage. Er genoss das letzte spärliche
Tageslicht, die frische Luft, etwas trocken und staubig, und doch tausendmal besser
als der reine Sauerstoff aus den Flaschen.
Er war seinem Retter dankbar und gespannt auf Henry Waverlean, seinen
Forscherkollegen. Vielleicht erfuhr er dort endlich etwas über den wahren
Robertson.
●
Als es dunkel war und er noch immer nichts von Shena gehört hatte, hielten
ihn keine zehn Pferde mehr in dem stickigen Zimmer.
Oliver Sholtres verließ die Gastwirtschaft. In der düsteren Schankstube
befand sich kein Mensch.
Er ging die Dorfstraße hinunter. Einmal begegnete ihm ein alter Mann. Der
englische Journalist blieb stehen und erkundigte sich nach einem abgelegenen
Bauernhaus, das in der Nähe des Dorfes liegen müsse.
Der Alte wusste darüber etwas zu sagen, er erwähnte sogar den Namen Shena.
Es war also nicht unbekannt, dass der junge Schriftsteller, der ein großes Werk
über die geheimnisvolle Geschichte seines ebenso geheimnisvollen Landes plante,
sich hier niedergelassen hatte. Shena studierte die einfachen Menschen und
befragte die Alten, die so vieles zu erzählen wussten, was bisher kein Buch berichtete.
Oliver Sholtres musste eine gute halbe Stunde gehen.
Das Dorf lag weit hinter ihm. Er wanderte auf der düsteren, staubigen
Straße. Über einen Seitenweg liefen zwei Maulesel, die ein Bauer hinter sich
herzog.
Der Engländer wurde auf das einfache, abseits gelegene Haus aufmerksam, das
von einem klobigen, baufälligen Zaun umgeben war. Es bereitete keine Mühe, die
Gattertür aufzustoßen. Sie war nicht mal verriegelt. Shena schien es nicht für
notwendig zu halten, seinen Besitz zu schützen. Oder aber – und bei diesem
Gedanken flutete es siedendheiß durch seinen Körper – Shena war im Hause, und
es war irgendetwas geschehen.
Die Unruhe in ihm wuchs, und mit einem Mal machte er sich Vorwürfe, dass er
sich nicht früher aufgerafft hatte, das Haus seines Freundes aufzusuchen.
Im Schutz der Dunkelheit und der langen, tiefen Schatten des einsamen,
recht verlottert wirkenden Bauernhauses, näherte sich Oliver Sholtres dem
Eingang.
Die Räume hinter den Fenstern waren dunkel. Der Engländer suchte die Türen
und Fenster ab und lauschte auf
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