0061 - Der Hexenberg
Comte konnte mit diesem Namen sichtlich nicht viel anfangen. Das Studium der Boulevardzeitungen gehörte offenbar nicht zu seinen Spezialitäten.
Anders war es jedoch mit der Mehrzahl der übrigen Anwesenden.
Rufe der Überraschung, ja der Empörung wurden laut.
»Also, wer ist Françoise Godeau?«, fragte der Comte noch einmal.
Das Mädchen Sylvie stotterte vor Erregung. »Fran… Françoise Go … Godeau ist die berüchtigte Mörderin, die auf geheimnisvolle Weise aus dem Untersuchungsgefängnis von Nizza ausgebrochen ist.«
»Hören Sie, Comte«, sagte Nicole. »All dies ist kompletter Unsinn. Geben Sie mir endlich Gelegenheit, mich allein mit Ihnen zu unterhalten.«
Maurice d’Aragnan legte abermals die Stirn in nachdenkliche Falten. »Ich erinnere mich ganz vage«, sagte er sinnend. »Soll diese Frau nicht an die zehn Männer spurlos beseitigt haben?«
»Ja, ja!«, bekräftigte das Mädchen eifrig und mit glänzenden Augen.
»Comte«, setzte Nicole erneut an.
Aber sie kam nicht dazu, weiterzusprechen. D’Aragnan war ein Mann von schnellen Entschlüssen.
»Packt sie!«, befahl er laut.
Und bevor Nicole etwas unternehmen konnte, stürzten sich die Bediensteten auf sie. Der Stab der Tausend Reisen wurde ihr entwunden. Ein besonders kräftiger Mann drehte ihr trotz heftiger Gegenwehr die Arme auf den Rücken.
»Ruft die Gendarmerie im Dorf«, sagte Maurice d’Aragnan.
***
Professor Zamorra und Bill Fleming kamen nicht vom Regen in die Traufe. Sie kamen geradewegs vom Regen in die Sintflut. Aber das merkten sie erst ein Weilchen später.
Zunächst einmal spürten sie etwas ganz anderes – mörderische Schmerzen an Kopf und Körper, die durch einen furchtbaren Schlag verursacht wurden, den sie bei ihrer Rematerialisation versetzt bekamen.
Die Schlagwirkung ging von keiner Person aus, sondern von einer unsichtbaren Mauer, gegen die sie geprallt waren.
Stöhnend rappelten sie sich auf.
Nachdem Zamorra festgestellt hatte, dass ihm offenbar nichts Ernstliches passiert war, fragte er den Freund: »Verletzt?«
»Der Kopf ist noch dran«, antwortete Bill ächzend. »Verflucht, kannst du mir verraten, was das gewesen ist?«
Der Professor hob die Schultern. »Was weiß ich! Ein Kraftfeld vielleicht, das unwillkommene Besucher abwehrt.«
Er streckte die Hand aus, spürte jedoch keinen Widerstand. Aber es wäre wohl zu viel verlangt gewesen, alle Phänomene in dieser Welt auf Anhieb verstehen zu wollen.
In unweiter Entfernung reckte sich eine golden glänzende Mauer in die Höhe, deren Krone nicht erkennbar war. Die Mauer wirkte wie die Begrenzung einer Insel, die losgelöst von allem in einem Meer von Nebeln zu schweben schien.
Verbarg sich dahinter der gesuchte Palast dieses mysteriösen Meisters? Und – was am wichtigsten war – befand sich Nicole wirklich in diesem Palast?
Bis zum Vorliegen anderweitiger Informationen mussten sie von diesen Annahmen ausgehen.
Trotz ihrer scheinbaren Flüchtigkeit stellten sich die wallenden Nebel als durchaus begehbar heraus. Mit langsamen Schritten gingen Zamorra und Bill auf die riesenhafte Mauer zu. Missvergnügt mussten sie erkennen, dass es an Toren und Pforten mangelte. Weit und breit war kein Eingang zu sehen. Die Mauer präsentierte sich als solider Block aus rostfarbenem Gold.
Dann jedoch, als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, überschlugen sich die Ereignisse.
Plötzlich klaffte eine Lücke in der Wand und spie eine Armee von Ungetümen aus, deren Anblick das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Im Nu waren die beiden Männer umringt. Tentakel, Pranken und andere Greifextremitäten drangen mit einer solchen Heftigkeit auf sie ein, dass ihnen die Angriffe der Pflanzenkreaturen von vorhin im Vergleich dazu wie das harmlose Gebalge von Kleinkindern vorkam.
An Gegenwehr und Flucht war angesichts dieser geballten Gewaltladung nicht zu denken.
Professor Zamorra und Bill Fleming waren überwältigt, bevor sie auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen konnten.
***
Es schien Nicole in diesen Tagen vorherbestimmt zu sein, fortwährend eingesperrt zu werden. Jetzt saß sie hinter Gittern in der einzigen Zelle der Polizeistation von Duffy und hatte dabei das zweifelhafte Vergnügen, den beiden Gendarmen beim Verzehr ihres Frühstücks zuzusehen.
Käse und Wein. Nicole lief bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. Während des Aufenthalts in der Zwischenwelt hatte sie keinen einzigen Bissen zu sich
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