0062 - Guru der Toten
die Frau am Fenster – nur dreißig Jahre jünger – zischte: »Kommen Sie! Schnell!«
Suko eilte auf sie zu. Sie gab die Tür frei, ließ ihn ins Haus, schloß hinter ihm sorgfältig ab.
»Werden Sie von Verbrechern verfolgt?« fragte das Mädchen.
»Wenn es bloß nur Verbrecher wären«, seufzte Suko.
»Ich heiße Bonie. Bonie Malloy.«
»Mein Name ist Suko. Ich bin ein Freund von Oberinspektor John Sinclair vom Yard. Deshalb sind die beiden über mich hergefallen. Darf ich bei Ihnen schnell mal telefonieren?«
»Selbstverständlich«, sagte Bonie Malloy.
Ihre Mutter kam aus dem Livingroom. »Bonie, was hast du getan? Willst du in irgendein Verbrechen verwickelt werden?«
»Mr. Suko braucht Hilfe. Wir dürfen sie ihm nicht verweigern, Ma.«
Die Frau sah den Chinesen vorwurfsvoll an. »Warum haben Sie nicht bei einem anderen an das Fenster geklopft?«
»Weil nur Sie in dieser Straße noch Licht hatten«, erwiderte Suko.
»Wir werden Ärger kriegen«, jammerte die Frau. »Du hättest diesen Mann nicht in unser Haus lassen dürfen, Bonie.«
Das brünette Mädchen nahm seine Mutter bei den Schultern. »Mr. Suko wird nur kurz telefonieren und unser Haus dann wieder verlassen. Er ist mit einem Oberinspektor von Scotland Yard befreundet…«
»Woher weißt du…?«
»Er hat es mir gesagt.«
»Behaupten kann man vieles. Aber ob es auch der Wahrheit entspricht.«
»Sei doch nicht immer so mißtrauisch, Ma.«
»Du bist noch nicht so lange wie ich auf der Welt, Bonie. Du weißt noch nicht, wie falsch und verlogen die Menschen sind.«
»Sieht Mr. Suko wie ein Lügner aus?«
»Jedem sieht man es nicht an.«
Bonie Malloy drängte ihre Mutter in den Livingroom zurück. Sie wies auf den Wandapparat, der in der Diele hing, und sagte, das Telefon stünde Suko zur Verfügung.
Der Chinese riß den Hörer vom Haken und wählte John Sinclairs Privatnummer. Er ließ es gut ein dutzendmal läuten.
John hob nicht ab.
Suko überlegte, ob er’s beim Yard versuchen sollte.
Doch für einen zweiten Anruf sollte er keine Gelegenheit mehr haben, denn in diesem Augenblick stieß im Livingroom Bonie Malloy einen Schrei aus, bei dem sich Sukos Kopfhaut schmerzlich zusammenzog.
Suko warf den Hörer auf den Haken und hastete in den Raum.
Er sah die Frau, die ihn nicht einlassen wollte. Er sah Bonie Malloy – und er sah den Kerl mit dem zerschossenen Gesicht.
Der Wiedergänger stand hinter dem vor Entsetzen starren Mädchen. Sein Unterarm lag quer über ihrer Kehle.
Und er drohte: »Wenn du noch mal Widerstand leistest, stirbt dieses Mädchen!«
Suko entspannte sich sofort.
Er wollte Bonie auf keinen Fall in Schwierigkeiten bringen. Langsam hob er die Hände, um zu zeigen, daß er sich ergab.
Plötzlich trat der zweite Wiedergänger hinter der Tür hervor, hinter der er sich verborgen hatte. Suko drehte nur den Kopf, nicht den Körper.
Er sah einen Feuerhaken auf sich herabsausen. Ehe er sich davor in Sicherheit bringen konnte, machte sein Kopf mit dem Ding Bekanntschaft.
Sterne spritzten vor seinen Augen auf, und dann gingen für ihn sämtliche Lampen aus.
***
Als er wieder zu sich kam, lag er auf hartem, kaltem Marmor. Gelbe Nebelschlieren krochen um ihn herum. Sie krabbelten über ihn hinweg. Er fühlte sich von ihnen berührt, versuchte sie abzuschütteln, doch sie krallten sich sofort an ihm fest.
Ein heftiger Schmerz pochte in seinem Kopf.
Und dabei mußte er froh sein, daß er überhaupt noch in der Lage war, Schmerzen zu empfinden. Die Wiedergänger hätten ihn auch umbringen können, ohne daß er fähig gewesen wäre, sie daran zu hindern.
Dermaßen unvorbereitet war Suko noch nie in einen Fall hineingeraten. Er hatte keinen blassen Schimmer, worum es ging, mit wem er es zu tun hatte, was in der weiteren Folge aus ihm werden würde.
Sein Mund war trocken.
Er hatte Durst.
Und er fragte sich, wo er eigentlich gelandet war.
Als seine Lebensgeister wieder halbwegs okay waren, versuchte er sich aufzurichten. Aber das klappte nicht.
Er war gefesselt, ohne daß man Stricke sehen konnte. Man hatte ihm also magische Fesseln verpaßt, damit er sich nicht aus dem Staub machen konnte. Wütend zerrte er an den unsichtbaren Fesseln, doch er erreichte damit nur, daß er außer Atem kam.
Verflixt, es gab einen weißmagischen Spruch, der solche Fesseln brüchig machte. Aber der Spruch wollte Suko nicht einfallen, und je mehr er sich anstrengte, um die Worte zusammenzukriegen, desto weniger kam er darauf.
Wütend
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