0068 - Die Geisternacht
gewachsen. Und Sekunden später war auch Nicole Duval zur Stelle.
Es überraschte Zamorra kaum noch, dass die Freunde so nackt waren wie er selbst. Ganz flüchtig wurde ihm bewusst, welch prächtigen Anblick Nicole in diesem paradiesischen Zustand bot. Gleichzeitig durchfuhr ihn der Gedanke, dass ein solcher Anblick eigentlich nicht für Bills Augen bestimmt war. Der Amerikaner war zwar sein bester Freund, aber es gab doch gewisse Grenzen. Aber dann führte er sich sofort vor Augen, wie lächerlich derartige Gedankengänge doch waren. Jetzt war ganz bestimmt nicht der Zeitpunkt, irgendwelche läppischen Eifersüchteleien ins Spiel zu bringen.
Nicole und Bill brauchten ein Weilchen, bis sie sich wenigstens soweit von ihrer Überraschung erholt hatten, dass sie die Sprache wiederfanden. Dann sprudelte es wasserfallartig aus ihnen heraus.
»Was ist passiert?«
»Wieso sind wir nackt?«
»Wo sind wir?«
Zamorra, der auf Anhieb keine dieser Fragen beantworten konnte, nahm jetzt endlich die Gelegenheit beim Schopf, sich mit der Örtlichkeit vertraut zu machen.
Sie befanden sich in einem ziemlich kleinen, ringsum von festgefügten Steinquadern umgebenem Raum. Es war kühl in diesem Raum, und die Luft erschien ungewöhnlich klar und ozonreich. Keine Spur mehr von der Sonnenglut, in der sie noch soeben geschwitzt hatten.
Der Raum war in ein diffuses Halbdunkel getaucht. Und das schwache Licht, das sich ausbreitete, stammte keineswegs von der Sonne, sondern ging von einer flackernden Fackel aus, die in eine der Seitenwände eingelassen worden war.
Und wo war die Sonne?
Zamorra blickte nach oben, zum ersten Mal, seit er hier war. Was er sah, beunruhigte ihn zutiefst. Über ihnen war nicht das erwartete Loch, durch das sie in diese Unterwelt gelangt waren. Eine solide Decke aus wuchtigen Steinblöcken schloss fugenfest mit den seitlichen Wänden ab.
Bill war seinem Blick gefolgt.
»Was meinst du?«, fragte er. »Eine Falltür vielleicht?«
»Sollte man meinen«, antwortete der Professor. »Obgleich ich nicht daran glaube. Die Decke liegt gut drei Meter hoch. Als ich runterkam, bin ich nicht gestürzt, sondern fand mich auf beiden Beinen stehend wieder. Und mit euch beiden war es genauso.«
»Ich hatte auch nicht das Gefühl, zu stürzen«, fiel Nicole ein. »Es war eher wie ein Gleiten durch Sirup. Ein sehr schmerzhaftes Gleiten übrigens. Mir tun jetzt noch sämtliche Glieder weh, wenn ich nur daran denke.«
»Komisch«, sagte Bill, »äußerst komisch.«
Damit sprach er auch den beiden anderen aus dem Herzen. Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu, soviel stand fest. Die Aktivität von Zamorras Amulett, der Verlust ihrer Kleider nebst Tascheninhalt, die seltsamen Umstände ihrer Ankunft in diesem Verlies.
»Eins wundert mich jedenfalls nicht mehr«, sagte der Historiker.
»Und das wäre?«
»Dass die Polizei die Kerle nie gefunden hat. Dieses Versteck hier hat es in sich. Ich hätte nie gedacht, dass sich unter diesen Trümmern noch Räume befinden, die so ausgezeichnet in Schuss sind.«
Er ging ganz nahe an eine Wand heran und fuhr mit den Fingerspitzen über die Steine. »Erstaunlich gut in Schuss«, fügte er hinzu.
»Diese Quader sehen gar nicht aus, als seinen sie schon über fünfhundert Jahre alt. Ich kann das beurteilen, denn ich habe schon unzählige alte Gemäuer in meinem Leben gesehen.«
»Alles gut und schön«, meldete sich Nicole wieder zu Wort. »Ich habe gar nichts gegen kulturhistorische Diskussionen, aber sollten wir nicht lieber mal darüber nachdenken, wie es nun weitergehen soll? Oder wollen wir hier Wurzeln schlagen? Ich für meinen Teil hätte jedenfalls nichts dagegen, hier wieder rauszukommen. Mir ist kalt!«
Der Professor konnte es ihr nachfühlen. Nackt wie sie waren…
Auch ihn fröstelte es.
»Gute Idee!«, sagte Bill. »Raus hier – ganz in meinem Sinne. Aber wie? Sieht jemand eine Tür oder so was ähnliches?«
»Ich sehe keine«, entgegnete der Professor. »Aber das will nicht viel besagen. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass die Jünger Tezcatlipocas und die von ihnen verschleppten Gefangenen ebenfalls diesen Weg genommen haben. Und da sie nicht mehr in diesem Raum sind, müssen sie ihn irgendwie verlassen haben. Ist jemand anderer Ansicht?«
»Was du sagst, entspricht der puren Logik, mein Freund. Ich sage es ja immer – du hast gute Anlagen zum Naturwissenschaftler. Aber in diesem Fall… Wie wäre es – kannst du nicht ein bisschen mit deinem Amulett
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