0068 - Die Geisternacht
schon Schwierigkeiten hätten, jemandem Guten Morgen zu sagen.«
»Ich denke, ihr könnt dieses Nahuatl. Ihr wisst zum Beispiel, dass Tedingsda Fürst oder Herr heißt und…« Nicole blickte von einem zum anderen.
»Wir wissen auch, dass Coatl Schlange heißt, Tezcatlipoca Rauchender Spiegel und noch ein paar andere Dinge mehr«, sagte der Professor. »Aber mit so ein paar Brocken ist es natürlich nicht möglich, Unterhaltungen zu führen. In jedem Fall können wir uns, so wie es ist, unter keinen Umständen unauffällig unters Volk mischen. Andererseits können wir aber auch hier nicht bis in alle Ewigkeit hocken bleiben.«
»Ganz schön besch… eiden, unsere Situation«, diagnostizierte Fleming.
Und das war es vorerst. Die Diagnose war gestellt, mit der Kur haperte es jedoch.
Misstrauisch starrten sie zum Tempel hinüber, den sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatten. Von reger Aktivität auf dem Pyramidengelände konnte keine Rede sein. Nach wie vor hatte sich kein menschliches Wesen blicken lassen. Die Götzenpriester waren entweder mit ihren Gefangenen hinunter nach Amecameca gezogen oder aber, was genauso gut möglich war, sie hielten sich irgendwo in einem der Tempelräume auf und taten Dinge, die Götzenpriester so taten.
Schließlich aber geschah doch etwas. In der ihrem Blickfeld zugewandten Tempelmauer tat sich eine Öffnung auf. Drei Männer traten hervor. Zwei von ihnen gehörten ganz offensichtlich der unseligen Priestertruppe an. Die Jaguarfelle, die sie trugen, wiesen sie zweifelsfrei aus. Der dritte Mann jedoch war nackt wie Zamorra, Nicole und Bill auch. Die Sonne schimmerte auf seiner rotbraunen Haut. Eindeutig befand er sich nicht freiwillig in der Gesellschaft der beiden anderen. Sie schleppten ihn gewaltsam mit sich. Viel Widerstand konnte er nicht leisten, denn jetzt sahen sie, dass seine Arme gefesselt waren.
Ein Gefangener. Höchstwahrscheinlich eins jener Opfer, die die Jünger des Schrecklichen aus dem zwanzigsten Jahrhundert in diese Epoche geschleppt hatten.
Die Wandöffnung schloss sich wieder hinter den Männern, und sie setzten sich in Bewegung. Ihr Weg war nicht weit. Schon nach wenigen Metern blieben sie wieder stehen. Der eine der Jaguarfellträger legte seine Hand auf eine bestimmte Stelle der Wand. Diese schwang in bekannter Manier zurück. Die Priester drängten ihren Gefangenen ins Innere. Der nackte Indianer wollte nicht, wehrte sich verzweifelt und lautstark. Sein Gebrüll drang vernehmbar zu den Beobachtern herüber. Aber natürlich nutzte ihm seine Gegenwehr nicht das geringste. Roh trieben ihn die Diener des Schrecklichen in den Raum. Das Wandsegment klappte hinter ihnen zu.
»Mein Gott«, sagte Nicole mitfühlend. »Habt ihr ihn schreien gehört? Was mögen sie da drin mit ihm anstellen?«
»Töten wahrscheinlich«, meinte Bill verbittert.
»Können wir denn gar nichts tun?«, fragte Nicole verzweifelt.
»Man kann doch nicht einfach zusehen, wie sie…«
Zamorra richtete sich in eine sitzende Stellung auf.
»Du bringst mich da auf eine Idee«, sagte er nachdenklich.
»Ja?«
»Wir sind uns gerade einig darüber geworden, dass eins unserer Hauptprobleme darin liegt, dass wir uns nicht mit den Eingeborenen verständigen können. Der Gefangene da drüben kann sich in dieser Beziehung wahrscheinlich besser helfen.«
»Wieso?«
»Viele der Indios unserer Tage sprechen noch eine der alten Stammessprachen. Nicht unbedingt das Nahuatl der Azteken, aber doch einen Dialekt, der den gleichen Stammbaum hat. Ein Mann mit solchen Fähigkeiten könnte uns sehr nützlich sein.«
Bill blickte ihn mit gekräuselter Unterlippe an. »Du meinst, wir sollten…«
Zamorra nickte. »Ja, ich meine, wir sollten versuchen, den Mann zu befreien. Einmal wäre es ein Gebot der Menschlichkeit. Und zum zweiten… Ich weiß nicht, inwieweit ihr euch über die Bedeutung von Zeitreisen im klaren seid. Falls nicht, kann ich euch etwas auf die Sprünge helfen. Nehmen wir diesen konkreten Fall hier. Die Kultur des alten Mittelamerika hatte einen beachtlichen Stand erreicht. Aber diese Entwicklungsstufe hält natürlich keinen Vergleich mit den Verhältnissen im zwanzigsten Jahrhundert aus. Wenn jedoch nun Menschen aus der Aztekenzeit in der Lage sind, in die Zukunft zu reisen, ist dies äußerst gefährlich. Sie bringen Dinge in Erfahrung, die die Azteken nie gekannt haben. Technik, Erfindungen, alles mögliche. Das Rad zum Beispiel. Die Indianer kannten das Prinzip des
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