0069 - Der unheimliche Bogenschütze
Schloßküche. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, so verschwand sein Lächeln und machte einem kalten, abweisenden, beinahe grausamen Gesichtsausdruck Platz. Willard schritt quer durch die große Empfangshalle, betrat den Rittersaal mit dem langen Speisetisch – hier sollten auch die Mahlzeiten eingenommen werden – und schritt dann in die Schloßbibliothek.
Zweimal drehte er den großen Schlüssel herum.
Die Schränke reichten bis zur Decke. Glas schützte wertvolle Bücher und Folianten vor dem Verstauben und dem Verfall.
Durch zwei hohe Fenster sickerte mattes Tageslicht. Die Bleiglasscheiben ließen nicht viel Helligkeit hinein.
Das Schloß besaß über dreißig Räume. Die meisten Zimmer waren zwar voll möbliert, standen aber leer. Niemand wohnte in ihnen. Jetzt erfüllten sie als Gästezimmer ihren Zweck. Es gab mehrere Bäder. Sie waren nachträglich eingebaut worden.
Vor einem schmalen Regal blieb Roman Willard stehen. Seine Hand fuhr über die linke Leiste, fand einen winzigen Holzhebel und drückte ihn nach unten.
Das Regal drehte sich, nachdem es einmal geknackt hatte.
Eine Öffnung gähnte Willard entgegen. Die Tür zu einem Geheimgang.
Roman Willard lachte kichernd. Diesen Teil des Schlosses kannten nur er und der unheimliche Bogenschütze, der in den Tiefen des Schloßkellers lauerte und auf ein Zeichen wartete.
Der Verwalter blieb auf der ersten Stufe stehen, griff nach rechts in eine Nische in der Wand und holte dort eine starke Taschenlampe hervor. Er schaltete sie ein und zog die Tür zu.
Roman Willard schlich die Treppe hinunter. Obwohl ihn hier niemand hörte, bemühte er sich doch, möglichst leise aufzutreten. Eine alte Gewohnheit, die er nicht ablegen konnte.
Im Halbkreis führte die alte Treppe nach unten. Es roch nach Moder und Verfall. Manche Steine waren locker. Feuchtigkeit hatte sich an den Wänden abgesetzt und im Laufe der Zeit eine Schimmelschicht gebildet.
Sie schimmerte hell, wenn der Lampenstrahl sie traf.
Der Verwalter erreichte das Ende der Treppe. Mehrere Gänge zweigten von hier aus ab. Sie führten zu unterirdischen Verliesen, die, wenn sie erzählen könnten, schreckliche Geschichten über Folterungen berichtet hätten. Das Mittelalter hatte auch in Sealford Castle seine Spuren hinterlassen.
Mal huschte eine Spinne vor dem hellen Lichtschein davon, dann war es ein dicker Käfer.
Roman Willard betrat den mittleren Gang. Er war der breiteste und führte ihn zu seinem Ziel.
Die Gewölbe hier unter der Erde strahlten die Kälte des Todes aus. Das Grauen lauerte in jedem Winkel, in jeder Ecke, in jeder Nische. Spinnweben hingen wie Schleier an der Wand oder zitterten in der Luft.
Irgendwo tropfte Wasser.
Hier unten war das Reich des unheimlichen Bogenschützen. Hier mußte er irgendwo lauern. Er versteckte sich immer woanders, aber er wußte genau, wann jemand kam.
Wieder passierte Roman Willard eine mannshohe Nische.
Da geschah es.
Plötzlich tauchte hinter ihm aus der Nische die Hand auf und legte sich schwer auf seine rechte Schulter.
Der Verwalter erschrak, blieb aber dann stocksteif stehen.
Ein hämisches Lachen erklang hinter ihm. »Ich hätte dich jetzt töten können.«
Willard lief eine Gänsehaut über den Rücken. Obwohl er mit dem unheimlichen Bogenschützen paktierte, hatte er doch Angst vor ihm.
Der Druck verschwand.
Roman Willard drehte sich um.
Das halbverweste Gesicht schimmerte grünlich leuchtend dicht vor seinen Augen. Gelbe Zähne bleckten ihn an. Der Bogenschütze hatte seinen Mund aufgerissen. Er hielt seine Waffe in der rechten Hand. Aus dem Köcher am Rücken schauten zahlreiche Pfeile hervor.
»Was willst du?« sprach das Gespenst den Verwalter an. »Soll ich wieder für dich töten?«
»Nicht für mich, für dich. Dir will man dein Reich nehmen. Darum zeige ihnen, wer der wahre Herr auf Sealford Castle ist.«
Der Bogenschütze nickte. Willard hatte genau den richtigen Ton angeschlagen. Wenn er dem Unheimlichen so kam, fraß der ihm aus der Hand.
»Was soll ich tun?« fragte der Bogenschütze.
»Noch nichts. Ich möchte nur, daß du dich bereit hältst und beobachtest. Du kennst die Schlupfwinkel in diesem Schloß, und ich überlasse es dir, wann und wo du zuschlägst. Die Leute, die heute eintreffen, haben alle etwas mit deiner Vertreibung zu tun. Du kannst schießen, auf wen du willst.«
Der Bogenschütze grinste, und sein Gesicht wurde noch fratzenhafter, als er die lappigen Lippen auseinanderzog.
Was
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