0071 - Knochensaat
»Kommen Sie, uns hält wohl nichts mehr hier.«
Der Meinung war ich auch.
***
Es war eine unheilvolle Ruhe, die uns draußen empfing. Der Tag neigte sich langsam seinem Ende zu. Die Dämmerung brach an, und ihr Grau vermischte sich mit dem Rot der Todeswolke zu einer düsteren Farbenkombination. Der Pfarrer und ich schritten die schmale, mit Kopfsteinpflaster belegte Straße hinab.
Unsere Schritte hallten durch die Nacht. Von irgendwoher wurden sie als Echo zurückgeworfen, und dieses Echo klang hohl und geisterhaft, als würde es uns verspotten. Immer wieder hielten wir nach den Skeletten Ausschau, doch wir sahen keinen einzigen der Knochenmänner. Es schien, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Aber das konnte nicht sein.
»Ahnen Sie, wohin die Skelette verschwunden sind?« fragte mich der Geistliche.
Ich nickte.
»Und wo?«
»Kommissar Mallmann hat mir von dem rätselhaften Stein berichtet.«
»Dann sind wir ja einer Meinung«, sagte der Pfarrer schnell.
»Können Sie mir mehr über diesen Felsen sagen?« erkundigte ich mich.
»Kaum.«
Ich bohrte weiter und gab mich nicht mit der Antwort zufrieden. »Irgend etwas muß dieser Felsen doch an sich haben, daß von ihm nur mit solch großem Respekt gesprochen wird.«
»Die Menschen hier halten ihn für ein Symbol des Teufels.« Ich schaute den Geistlichen schräg von der Seite her an. »Haben sie damit so unrecht?«
Pfarrer Kroger blieb stehen, und ich machte es ihm zwangsläufig nach. »Vor einem Tag noch hätte ich den, der mich dieses gefragt hat, ausgelacht. Jetzt nicht mehr. Glauben Sie an den Teufel, Herr Sinclair?«
»Ich weiß, daß Satan existiert.«
»Aber wie sollen Sie ihn beschreiben? Ist oben der Himmel oder unten die Hölle? Nein, diese Philosophie ist überholt, obwohl ich sie den Kindern immer noch vermitteln muß, um ihnen das Ganze begreiflich zu machen. Schließlich ist der Glaube ein Mysterium.«
Ich wollte mich nicht auf einen langen Dialog mit dem Pfarrer einlassen, sondern erzählte ihm einiges aus meiner Praxis. Das jedoch in kurzen Sätzen. Ich erwähnte auch Asmodis, den Höllenfürsten, und seinen Ersten Diener, den Schwarzen Tod.
»Diese Bekanntschaft habe ich noch nicht gemacht«, gab Pfarrer Kroger zu. »Seien Sie froh.«
Wir waren weitergegangen und erreichten das Ende der schmalen Straße. Von hier aus konnten wir auf den Marktplatz mit dem Brunnen schauen. Der Pfarrer erschrak.
»Herr im Himmel, das ist ja grauenvoll«, flüsterte er, als er die zahlreichen Menschen auf der Erde liegen sah. »Ich – ich kann es nicht fassen.«
Meine Antwort war Schweigen.
Wir schritten quer über den Platz. Nichts hatte sich verändert. Die Menschen lagen weiterhin in einem totenähnlichen Schlaf. Aber was, zum Teufel, wurde damit bezweckt?
Welches Geheimnis steckte hinter all diesem Grauen?
Auch inmitten des Ortes sah ich keine Spur von den Skeletten.
Es schien, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
»Sie sind doch zum Felsen gelaufen«, vermutete der Pfarrer.
Ich nickte zustimmend, doch dann hielt ich ihn am Arm fest.
»Einen Augenblick noch.«
»Was ist denn?«
Ich deutete nach vorn auf eine schmale Seitenstraße. Dort hatte sich etwas bewegt. Ein hellerer Schatten, der sich von der Hauswand deutlich abhob.
Ein Skelett!
Nein, zwei.
Und sie schritten nebeneinander.
Im nächsten Augenblick stieß der Geistliche einen Ruf aus.
»Da sind noch mehr Gerippe«, sagte er.
Ich sah sie ebenfalls.
Sie kamen aus den Seitenstraßen und liefen auf den Marktplatz zu, um sich dort zu sammeln.
Doch das war es nicht, was mich so erschreckte. Die Skelette waren nicht allein.
Über die Schultern hatten sich die Knöchernen jeder einen schlafenden Menschen gelegt…
***
Der Pfarrer faßte nach meinem Arm. Ich spürte, wie sich die Finger in das Fleisch gruben, so hart war sein Griff.
»Sagen Sie mir, daß ich träume«, keuchte der Geistliche.
»Bitte, sagen Sie es…«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es ist kein Traum. Es ist Wirklichkeit.«
Die Skelette holten sich die Menschen. Wie ich es geahnt hatte. Und wir waren hilflose Beobachter, denn wir konnten nichts tun, die Übermacht war zu groß.
Der Horror wurde immer schlimmer.
Gespenstisch hallte das Klappern der Knochen an den Hauswänden wider.
Die leblosen Körper auf den bleichen Schultern schaukelten hin und her. Die größeren, vor allen Dingen Männer, berührten mit ihren Fingerspitzen den Boden. Die Unheimlichen hatten ein Ziel. Es war der Brunnen.
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