0072 - Die Ruine des Hexers
Unordnung.
Plötzlich erstarb der eisige Sturm, nur die Finsternis blieb. In ihr manifestierte sich eine hagere Gestalt. Ein Mann mit einem schwarzen Umhang, aber ohne Kopf auf den Schultern. Er trug ihn unter dem Arm.
Und dieser Kopf zog eine grinsende Grimasse und redete in höhnischem Tonfall.
»Ich weiß Bescheid, ich weiß alles! Glaubt nur nicht, daß ihr so mit mir fertigwerden könnt, ihr armseligen Menschen. Ich bin Romain Rolland, und ihr werdet noch alle meine Untertanen sein.«
Die unheimliche Erscheinung verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Stimmen ertönten aus der Finsternis, fern und unwirklich. Dann war ein Angstschrei zu hören, eine Frauenstimme.
War es die Stimme von Nicole Duval?
Ein Mann rezitierte Austreibungsformeln, und diesmal erkannten der junge Baron und der Kommissar klar, daß es sich um Zamorras Stimme handelte. Ein lautes Zischen übertönte die Worte. Giftig klang es, wie das einer Riesenschlange.
Dann herrschte Stille. Die Finsternis wich abrupt, und man sah die leere Backstube. Zamorra und Nicole waren mit ihrem Gepäck spurlos verschwunden.
Entsetzte Hausbewohner liefen herbei, von dem Knall und dem Gepolter alarmiert. Der Kriminalbeamte schickte sie weg. Auf dem Hof der Bäckerei sammelten sich neugierige Nachbarn und Passanten. Aber die Männer in der Bereitstellungskammer blieben unter sich.
Sie warteten auf die Rückkehr von Zamorra und Nicole Duval. Die Minuten reihten sich aneinander. Eine Viertelstunde verstrich, eine halbe. Baron Paul war jetzt ernsthaft beunruhigt.
»Zamorra sagte, sie wollten in wenigen Augenblicken zurück sein«, sagte er.
Paul de Gascoyne hatte dem Kommissar während der Wartezeit von Zamorras Absicht erzählt, mit Nicole eine Zeitreise zu unternehmen. Vorher hatte Faber nur von einem Ritual gewußt, das Zamorra vornehmen wollte.
»Was glauben Sie?« fragte der dicke Kommissar.
»Ich fürchte, Zamorras Versuch ist gescheitert«, sagte der junge Baron. »Romain Rolland, der Hexer, konnte ihn und Nicole Duval in der Vergangenheit besiegen und vernichten.«
Die Männer schauten sich betreten an.
***
Zamorra stürzte in den endlosen Abgrund. Sphärenklänge hüllten ihn ein, und leuchtende, vielfarbige Spiralen tanzten und wirbelten um ihn. Er hatte keine Erinnerung, er trieb dahin durch die Dimension der Zeit.
Zamorra wußte von nichts. Aber er hatte sich darauf konzentriert, vor Romain Rollands Hinrichtung ins Jahr 1776 zu gelangen. Plötzlich spürte er Boden unter den Füßen, und er konnte sich auch diesmal nicht abfangen.
Zamorra stürzte, bildete mit Nicole, der Tasche und dem Koffer einen wüsten Knäuel. Er lag auf dem Lehmboden der Satanskapelle, raffte sich gleich wieder auf. Der Professor half Nicole auf die Beine.
Sie schauten sich um. Ja, die Kapelle existierte, und sie war unversehrt. Die scheußlichen und blasphemischen Bilder hingen an den Wänden, die obskuren Linien durchzogen den Boden und am mit schwarzen Tüchern verhängten Altar brannte die schwarze Kerze.
Es roch nach Räucherwerk, und außer Zamorra und Nicole befand sich niemand in der Satanskapelle. Düster war es. Nur wenig Licht fiel durch Ritzen im Dach und in der Tür ein. Zamorra und Nicole wußten wieder genau, was vorgefallen war und wie sie hierhergelangt waren.
»Wir sind richtig«, sagte Zamorra. »Ich will rasch einen Blick hinauswerfen.«
Er steckte sein Amulett weg, ging zur Tür und legte den massiven Balkenriegel zurück. Diesmal war die magische Energie, die die Zeitreise ermöglichte, sehr stark gewesen. In der Kapelle aber war von der übernatürlichen Kraft noch nichts zu spüren.
Helles Sonnenlicht fiel in den düsteren Raum und frische Waldluft strömte herein. Dreißig Meter weit entfernt war der Waldrand. Es war ein warmer, sonniger Tag, etwa zwei Uhr nachmittags. Niemand befand sich in der Nähe.
Zamorra ging hinaus, schaute sich um und ging einmal um die Kapelle herum. Sie war aus Bruchstein erbaut und nicht ganz gleichmäßig in der Form. Ein primitives Bauwerk, das einen morbiden Reiz hatte, wie es da auf der Waldlichtung stand.
Als Zamorra von seinem Rundgang zurückkehrte, stand Nicole auf der Schwelle der Kapelle. Tief atmete sie die frische Waldluft ein.
»Sollen wir uns umziehen, Zamorra?«
»Was sonst? Diese Kapelle muß irgendwo in der Nähe von Angers stehen. Wir müssen sehen, daß wir aus dem Wald herauskommen und in die Stadt gelangen. Dort werden wir ausfindig machen, wo sich Romain Rolland aufhält und
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