0072 - Die Ruine des Hexers
saßen, prächtig gekleidet mit Krinolinenkleidern und langen Wämsern. Die Mode des 18. Jahrhunderts war viel romantischer als die des heutigen, viel verspielter und farbenfreudiger.
Die Fenster rund um den Marktplatz waren allesamt belagert. Zamorra und Nicole sahen eine Menge Kinder. Die Kleineren wurden von den Eltern in der Menge hochgehoben, damit sie besser sehen konnten.
Ein unbeschreibliches Gedränge herrschte, und durch dieses quetschten sich Händler mit Erfrischungen, Fleisch- und Wurstwaren und Gebäck, gerösteten Maronen und allerlei Leckereien. Es war wie bei einem Volksfest. Betrunkene grollen in der Menge.
Die Wirte der Stadt freuten sich.
Die Stimmen der Menge bildeten ein brausendes Gewirr, aus dem nur manchmal laute Zwischenrufe hervorstachen. Nun begannen auch noch die Sterbeglocken der Kathedrale zu läuten, dumpf und schwermütig.
»Was für ein Aufstand!« meinte Nicole. »Sollen sie ihm doch den Kopf abhacken und damit fertig.«
»Die Leute wollen ihre Unterhaltung haben«, sagte Zamorra.
Bisher war die Szene gleichsam erstarrt. Nun gab es Aktion. Vorn bei der Hinrichtigungsplattform entstand Gedränge. Gardisten mit roten Uniformröcken führten einen Mann die Stufen zur Plattform hoch.
Er trug ein braunes Büßergewand mit einem Strick um den Leib, war barhäuptig und hatte schwere Ketten an Händen und Füßen. Er war hochgewachsen, sein Haar schwarz und lockig. Ein paar graue Strähnen mischten sich schon hinein.
»Romain Rolland!« brüllte die Menge. »Dreckiger Hexer!«
»Satansgenosse! Schweinehund!«
Die Leute reckten sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Auf dem Schaugerüst verrenkten die Zuschauer die Hälse oder standen auf, in den Häusern hängten sie sich weit aus den Fenstern.
Steine und faules Obst flogen, und die Stadtgardisten fluchten und drohten mit den Fäusten, weil sie mehr abbekamen als der Hexer, für den es bestimmt war. Sie ließen ihren Unmut an ihm aus, stießen und zerrten ihn zur Guillotine.
Jetzt drehte Romain Rolland sich um, und Zamorra sah sein Gesicht. Er stand mit Nicole ganz hinten. Der hochgewachsene Zamorra konnte gut sehen, aber Nicole mußte sich hochrecken.
Dumpf dröhnten die Glocken.
Romain Rolland hatte ein hageres, tiefgefurchtes Gesicht und fanatische Augen. Zamorra schätzte ihn auf Anfang Fünfzig. Er griff an sein Amulett, konnte aber nichts wahrnehmen. Noch nicht. Einzugreifen und die Hinrichtung abzuändern, daran war nicht einmal zu denken.
Zamorra konnte nur zusehen.
Romain Rolland zerrte an seinen Fesseln, sträubte sich gegen seine Bewacher, bis ihm ein stämmiger Gardist die Faust ins Gesicht schlug. Sofort begann die Nase des Hexers zu bluten. Der Scharfrichter erteilte dem Gardisten einen scharfen Verweis, und das Volk brüllte und johlte Beifall.
Die Glocken verstummten. Es wurde totenstill auf dem Platz.
***
Der Stadtschreiber stieg auf die Plattform und schlug ein in Leder gebundenes Buch auf. Es enthielt das gedruckte Urteil. Der Stadtschreiber war ein stattlicher Mann in dunklem Staat, mit Zweispitz und einem Überrock, der am Rücken bis zu den Knien reichte.
»Urteil!« las der Stadtschreiber laut vor. »Romain Rolland, Privatgelehrter zweifelhafter Herkunft und Abstammung, wurde vom hohen Gericht der Stadt Angers unter Vorsitz des Barons Robert de Gascoyne schuldig befunden des Verbrechens der Hexerei, des Paktierens mit dem Satan, widernatürlicher Untriebe, der Verführung mehrerer bis dato unbescholtener Personen dazu und des mehrfachen Mordes an Menschen und Tieren. Ferner der Verderbnis von Feld, Wald und Acker, des Wetterhexens und des allgemeinen Bringens von Unflat und Unheil.«
Die Menge brüllte, und es dauerte eine Weile, bis Zamorra und Nicole den Vorleser wieder verstehen konnten. Zeugnisse und Beweise gegen Romain Rolland wurden verlesen. Der Name der Schwestern Jeanne und Anette Lesanque tauchte auf.
Soweit Zamorra es verstand, hatten sie erst mit Romain Rolland an Schwarzen Messen teilgenommen und sich dann gegen ihn gewendet. Wahrscheinlich, nachdem er verhaftet war, um den eigenen Hals zu retten. Weitere Namen wurden verlesen.
Sie rauschten an Zamorras Ohr vorüber. Das Volk begann zu murren.
»Worauf wartet ihr noch?« riefen die Leute. »Macht ihn endlich einen Kopf kürzer.«
»Hackt ihm die Rübe ab!«
Der Stadtschreiber kam nun zum Schluß.
»… verurteilt das hohe Gericht der Stadt Angers unter Vorsitz des Barons Robert de Gascoyne und des Richters
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