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0072 - Die Ruine des Hexers

0072 - Die Ruine des Hexers

Titel: 0072 - Die Ruine des Hexers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Appel
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»Wir wollten doch eine ganze Weile vor der Hinrichtung ankommen. Warum ist es uns nicht gelungen?«
    »Ganz einfach. Es kann eben kein Zeitparadoxon geben. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können Romain Rolland, der hingerichtet wurde, nicht auf eine andere Weise vom Leben zum Tod bringen.«
    Zamorra und Nicole hatten mit der Richtung, die sie zuerst einschlugen, einen gehörigen Umweg gemacht. Sie beeilten sich, aber sie brauchten doch über eine Stunde, um nach Angers zu kommen.
    Die Stadt sah ganz anders aus. Ohne Fabriken und Autostraßen, ohne den Verkehr des 20. Jahrhunderts.
    Am Fluß, der Mayenne, wurden zwei plumpe Lastkähne mit Zugpferden flußaufwärts getreidelt. Die Zugpferde, kräftige Gäule, legten sich mächtig ins Zeug. Männer mit derber Arbeitskleidung führten sie an der Leine.
    Zamorra und Nicole kamen von Norden her in die Stadt. Die Straßen waren eng, und es gab keine Kanalisation, sondern nur eine Schmutzrinne auf jeder Seite der gepflasterten Straße. Hinter jedem Haus gab es eine Sickergrube, die im Sommer nicht nach Eau de Cologne duftete.
    Die Häuser hatten kleine Fenster und enge Stuben, Erker und hohe Giebel. Hühner stolzierten auf den Höfen und manchmal auch auf den Straßen umher, denn Angers war eine ländliche Stadt.
    Die Straßenbeleuchtung bestand aus ein paar jämmerlichen Öllaternen. Wer in einer dunklen Nacht durch die Straßen finden wollte, tat gut daran, eine eigene Laterne mitzunehmen. Unliebsamen Gästen, die sich über Nacht einquartieren wollten, wurde heimgeleuchtet.
    Daher stammte die Redensart, die bis ins 20. Jahrhundert übergekommen war.
    Die Straßen lagen wie ausgestorben.
    »Kein Wunder«, sagte Zamorra. »Heute ist alles, was Beine hat, auf dem Marktplatz und schaut sich die Enthauptung Romain Rollands an. So ein Schauspiel ließen sich nur ein paar Außenseiter wie unser philosophischer Landmann entgehen.«
    »Sie lassen es sich entgehen«, korrigierte Nicole. »Solange wir hier sind, ist dies unsere Zeit. Und wenn wir in dieser Zeit sterben, sind wir unwiderruflich tot.«
    Der Marktplatz mußte sich in der Stadtmitte befinden. Man hörte jetzt ein dumpfes Raunen und Brausen. Gewiß waren ein paar tausend Menschen zusammengekommen, um die Enthauptung mitanzusehen.
    Zamorra dachte flüchtig an das Problem des Zeitparadoxons, das jetzt nicht mehr existierte. Die Realität ließ sich nicht abändern. Alles war ein geschlossenes System, zu dem auch Zamorra und Nicole gehörten. Als Teile des Systems konnten sie dieses nicht umkrempeln.
    Ihre Zeitreise und deren Auswirkungen waren Teil der Realität, die Zamorra und Nicole im 20. Jahrhundert kennengelernt hatten.
    Das sagte Zamorra aber gar nichts. Denn er wußte weder, wieviel Menschen 1776 ums Leben gekommen waren, noch ob seine Mission erfolgreich verlaufen war oder nicht.
    Nach dem, was Zamorra bekannt war, konnte ebensogut Romain Rolland seine Pläne ausgeführt und im 20. Jahrhundert eine ungeheure und dämonische Macht gewonnen haben. Wohlgemerkt, nur im 20. Jahrhundert, nach dem Zeitpunkt, zu dem Zamorra und Nicole Duval zum zweiten Mal in die Vergangenheit reisten.
    Daß Rolland im 18. Jahrhundert ein ungeheuer mächtiger Dämon geworden wäre, davon war nichts bekannt. Von dem, was die Geisterstimme beim Tod des Bäckers Martin Claireaux geschrien hatte, kannte Zamorra die Ziele des Dämons genau.
    Das Gemurmel wurde lauter, und dann erreichten Zamorra und Nicole den großen Marktplatz. Er war voll von Menschen jeden Alters, Standes und Geschlechts. Das Rathaus, die Kathedrale und einige Patrizier- und Geschäftshäuser befanden sich am Marktplatz, dem Zentrum der Stadt.
    In seiner Mitte war die Plattform mit der Guillotine aufgebaut, erhöht, damit auch jeder etwas sehen konnte. Die Guillotine stand auf dem Gerüst. Der Scharfrichter und sein Gehilfe machten sich daran zu schaffen.
    Sie trugen schwarze Wämser. Ein Pfarrer im Festtagstalar stand da, die Bibel in der Hand. Hinter der Guillotine, von Zamorra aus gesehen, standen zwei kräftige Büttel mit Federhüten und aufgeplusterten Wämsern. Stadtgardisten umgaben die Guillotineplattform und hatten Mühe, die Menge mit ihren quergehaltenen Steinschloßgewehren und Hellebarden zurückzudrängen.
    Der Schinderkarren, von einer klapprigen Mähre gezogen, stand schon bei der Guillotineplattform. Auf ihm war Romain Rolland vom Gefängnis hergebracht worden.
    Es gab ein Schaugerüst, auf dem hochgestellte Persönlichkeiten und ihre Damen

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