0072 - Die Ruine des Hexers
ihm auf den Pelz rücken.«
»Und das Zeitparadoxon?«
»Warte erst ab, wie sich alles entwickelt, und ob es eines gibt. Warum sollen wir uns vorher den Kopf über diese Dinge zerbrechen?«
Zamorra hatte recht. In der Kapelle legten er und Nicole ihre Oberkleider ab. Zamorra öffnete die Reisetasche. Sie enthielt einen grünen Zweispitz mit einer Zierquaste, ein rotes Seidenhemd, ein Ziertuch, einen hochgeschlossenen blauen Überrock und cremefarbene Kniebundhosen sowie Gamaschen und Schnallenschuhe. Außerdem eine schwarzhaarige Herrenperücke mit einer Frisur im Stil der Zeit. Für Nicole gab es eine braune Damenperücke, einen blauen Federhut mit grüner Feder, ein grünes Schoßjäckchen mit spitzem Ausschnitt, weiße Handschuhe sowie einen handgearbeiteten, weißgrünen Reifrock mit einem spitzenbesetzten Überrock.
Er wurde über einer Krinoline getragen. Als Zamorra und Nicole sich umgezogen hatten, wirkten sie völlig fremdartig. Wie ein Kavalier des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit seiner Dame.
Zamorra verneigte sich.
»Demoiselle Duval darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?«
»Merci, Monsieur Zamorra. Ich muß Sie tadeln, daß Sie so leichtsinnig waren, keine Kutsche vorzubestellen.«
»Ich wollte mich nicht um das Vergnügen eines Spaziergangs mit Ihnen bringen, Demoiselle.«
Lachend verließen Zamorra und Nicole Duval die Satanskapelle.
***
Zamorra versteckte die Reisetasche mit den Kleidern aus dem 20.
Jahrhundert sowie das Einsatzköfferchen in der Nähe der Satanskapelle im Wald. Den Revolver mit den Silberkugeln sowie seine Weihwasserampulle, ein silbernes Kreuz, ein paar Stücke magische Kreide verstaute er in den großen Jackentaschen.
Der handliche .38er trug nicht auf. Arm in Arm gingen Zamorra und Nicole dann durch den Wald. Die Sonne schien hell. Es war ein friedliches Bild.
Bisher fiel es noch nicht auf, daß Zamorra und Nicole sich in einem früheren Jahrhundert befanden.
Zamorra hatte sich nach Osten gewandt. Er nahm an, daß die Satanskapelle irgendwo in der Nähe von Angers oder beim Schloß Gascoynes stand. Es dauerte eine Weile, bis Zamorra und Nicole aus dem dichten, urwüchsigen Wald herauskamen.
Er war nicht so gepflegt wie ein Forst des 20. Jahrhunderts. Es gab viel Unterholz und sumpfige Stellen.
Nach einer Stunde etwa sahen Zamorra und Nicole den Waldrand vor sich. Sie kamen an einen Fluß, der nach Süden strömte. Es mußte die Mayenne oder die Sarthe sein.
Auf einem Feld mähte ein Bauer Raps. Zamorra und Nicole gingen hin. Der Landmann sah den beiden vornehm gekleideten Personen neugierig entgegen.
Er stand am Weg, die Sense in der Hand. Er trug ein grobes Hemd, leinene Kniehosen und derbe Schuhe. Als Zamorra ihn anredete, verbeugte er sich.
»Wir wollen nach Angers«, sagte Zamorra. »In welche Richtung müssen wir gehen?«
Der Landmann räusperte sich und erklärte es in altertümlichem Französisch.
»Ihr wollt sicher die Hinrichtung von Romain Rolland, dem Hexer, mit ansehen«, sagte er. »Da müßt ihr euch beeilen. In einer Stunde fällt sein Kopf auf dem Marktplatz von Angers.«
Zamorra traf es wie ein Stromstoß.
»Bist du sicher?« fragte er den Bauern. »Sollten es nicht noch ein paar Tage bis dahin sein?«
Der Bauer schaute ihn erstaunt an.
»Wie sollte ich nicht sicher sein, wo meine ganze Familie dort ist, um zu gaffen, und uns der Pfarrer schon seit Wochen vom Treiben des Hexers und seiner gerechten Strafe die Ohren vollpredigt? Ihr kommt wohl von weither, was?«
»Wir sind aus dem Elsaß«, antwortete Zamorra und kramte in der Börse mit altem Geld, die er wohlweislich vom Schloß Gascoyne mitgenommen hatte. »Unsere Kutsche steht mit einem Achsbruch im Wald.«
Er gab dem Bauern einen halben Louisdor. Der stoppelbärtige Mann verneigte sich tief.
»Hochwohlgeborener Herr. Soll ich Hilfe für Eure Kutsche herbeiholen?«
»Nicht nötig. Das erledigen wir schon. Weshalb bist du nicht an der Richtstätte?«
»Ach, Herr, mir gefällt die Köpfeabhackerei nicht. Auch wenn so ein Kerl ein Lump ist, ich muß immer daran denken, wieviel Mühe es seiner Mutter gemacht hat, ihn zur Welt zu bringen und großzuziehen. Dann fällt das Beil, und im Augenblick ist alles vorbei. Da wird mir schwer ums Herz, mag der Pfarrer sagen, was er will.«
Zamorra nickte dem Bauern zu und ging mit Nicole weiter. Der Landmann sah den beiden noch eine Weile nach, schüttelte dann den Kopf und kümmerte sich um seinen Raps.
»Ich verstehe nicht«, sagte Nicole.
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