007a - Amoklauf
schlenderte ich um den Häuserblock herum, bis ich den zweiten Eingang erreicht hatte. Wie beim erstenmal hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, hineinzukommen. Der Garten war leer.
Ich blieb kurz stehen und sah mich genau um.
Die Stunde der Abrechnung ist gekommen , dachte ich grimmig.
Ich erreichte das Haus und trat ein. Es war unglaublich ruhig und dunkel, so als würde ich in eine Gruft eindringen. Ohne zu zögern, stieg ich die Treppe hoch ins erste Stockwerk. An einem Fenster blieb ich kurz stehen und sah in den Garten hinunter. Nichts bewegte sich. Ich stieg weiter nach oben. Es war verdächtig ruhig. Sicherheitshalber nahm ich die Luftdruckpistole in die Hand. Doch Hewitt konnte mir im Grund nichts anhaben. Er konnte mich nicht verletzen und auch in keine Falle locken.
Ich öffnete die Tür zum Vorzimmer und trat ein. Es war dunkel. Rasch ging ich weiter. Als ich das erstemal hiergewesen war, hatte mir eine unsichtbare Wand den Weg versperrt. Jetzt hatte ich ein Gegenmittel dabei, doch ich brauchte es nicht anzuwenden; es gab keine Barriere mehr.
Hoffentlich ist Hewitt nicht geflohen , schoß es mir durch den Kopf.
Ich griff nach der Türklinke, zögerte, überwand meine Scheu, drückte die Klinke nieder und sprang ins Zimmer. Darin war es völlig dunkel. Ich hörte jedoch das Atmen eines Menschen.
»Hewitt«, sagte ich.
Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und ich entdeckte die schemenhafte Gestalt am Fenster. Sie bewegte sich leicht.
»Wer ist da?« fragte mich eine zitternde Stimme, die entfernt nach Hewitt klang.
»Ich bin es«, sagte ich und grinste. »Dorian Hunter.«
»Dorian Hunter!« keuchte Hewitt. »Du kommst zu spät, Bruder.«
Er stieß ein irres Lachen aus.
»Zu spät?« fragte ich und tastete nach dem Schalter.
»Ja, zu spät«, sagte er.
Endlich hatte ich den Schalter erreicht. Die Deckenbeleuchtung flammte auf. Entsetzt trat ich einen Schritt zurück. Hewitt starrte mich aus blinden Augen an. Er sah mich nicht, aber was ich zu sehen bekam, ließ mir vor Entsetzen die Haare zu Berge stehen.
Hewitt war einmal ein stattlicher Mann gewesen, jetzt war sein Körper zusammengeschrumpft; er war kaum größer als ein fünfjähriger Junge. Der linke Arm war verkrüppelt, winzig klein; wie eine Geschwulst klebte er an der Schulter; der andere Arm war unendlich dünn und mindestens zwei Meter lang. Die Beine hatten ebenfalls unterschiedliche Längen. Aber das grauenhafteste waren die eitrigen Geschwüre und Beulen, die seinen Körper bedeckten. Sein Gesicht war fast unkenntlich, eine blutige Fläche.
»Ich wurde aus der Schwarzen Familie ausgestoßen«, sagte er. »Ich bin ein Aussätziger und verurteilt, mein weiteres Leben qualvoll zu verbringen.«
Asmodi hatte ihn gerichtet. Er hatte ihn für das Mißlingen des Hexensabbats verantwortlich gemacht. Hewitt hatte recht: Das Familienoberhaupt der Schwarzen Familie war mir zuvorgekommen.
»Töte mich, Dorian!« flüsterte das Monster. »Erlöse mich von meinen Qualen! Töte mich!«
Die letzten Worte hatte er fast geschrien.
Ich hob die Pistole und ließ sie wieder sinken. »Nein«, sagte ich. »Ich töte dich nicht, Jerome. Du bist kein Dämon mehr, und ich töte nur Dämonen.«
»Ich flehe dich an!« wimmerte er. »Erlöse mich! Töte mich!«
Ich steckte die Pistole ein, warf ihm einen letzten Blick zu, löschte das Licht und schloß langsam die Tür. Als ich durch das Vorzimmer ging, hörte ich noch immer sein Klagen und Wimmern. Ich preßte die Lippen zusammen und stieg die Treppe hinunter. Auch meinen fünften Bruder hatte ich zur Strecke gebracht, doch ich fühlte keine Befriedigung, obwohl ich eigentlich hätte zufrieden sein sollen. Ich hatte die Dämonen mit ihren eigenen Waffen geschlagen, hatte sie dazu gebracht, daß sie einen der Ihren ausstießen.
Im Garten setzte ich mich auf eine Schaukel, rauchte eine Zigarette und schloß die Augen. Lange blieb ich so sitzen. Schließlich stand ich auf und verließ den Garten. Ich ließ das Tor offen, blickte kurz zurück, vergrub die Hände in den Taschen und ging durch die nächtlichen Straßen Bruneis.
Ich wußte, daß ich diese Nacht lange keinen Schlaf finden würde.
Weitere Kostenlose Bücher