0082a - Amoklauf in der Todeszelle
Wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt, als es noch fast dunkel war. Vielleicht hat sie den Sechs-Uhr-Bus am frühen Morgen benutzt.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Nun, Ihre Schwester hat vergessen, das Licht auszumachen. Und Licht knipst man doch nur an, wenn es draußen dunkel ist, nicht wahr?«
»Merkwürdig«, murmelte Nelly. »Sollte ein Mann dahinterstecken?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte der Priester ehrlich.
»Im vorigen Jahr hatte sie zwei Zimmer an zwei Herren aus New York vermietet«, sinnierte Nelly laut vor sich hin. »Und der Sechs-Uhr-Bus hat Anschluß zum Frühzug nach New York! Sie werden zugeben, daß das so ist!«
»Gewiß, Miß Houston!«
»Sehen Sie!« rief Nelly triumphierend. Ihr Gesicht rötete sich. Vielleicht, vielleicht…! »Natürlich muß man das Objekt Kindergarten fördern!« sagte Nelly in einer jähen Anwandlung von Großzügigkeit. Sie legte ganze zehn Dollar auf den Tisch und trug den Betrag stolz in die Sammelliste ein.
Der Pfarrer bedankte sich in herzlichen Worten. Er hatte bestenfalls mit einem Fünftel dieser Summe zu rechnen gewagt. Nachdem er seine Tasse Tee ausgetrunken hatte, empfahl er sich.
Kaum hatte er das Häuschen verlassen, da machte sich Nelly auch schon fertig. Sie prüfte die Frisur, band sich ein Kopftuch um und zog die flachen Sportschuhe an, die sie sich erst vor ein paar Tagen gekauft hatte und ihrer Schwester noch gar nicht vorgeführt hatte.
Es waren keine vier Minuten Weg von Nellys Haus bis zu Sarah. Tatsächlich brannte im Wohnzimmer Licht, und die Vorhänge waren zugezogen. Das sah in der Tat ganz danach aus, als ob Sarah das Haus noch vor Anbruch des Morgens verlassen hätte.
Nelly zögerte an der Haustür. Wenn Sarah nun doch zu Hause War? Es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn sie von der Schwester dabei überrascht würde, wie sie in deren Abwesenheit ins Haus eindrang! Andererseits war Sarah viel zu sparsam, als daß sie das Licht hätte tagsüber brennen lassen, wenn sie zu Hause gewesen wäre.
Nelly wußte, wie man in das Haus kommen konnte, ohne einen Schlüssel zu besitzen. Sie hatte es an ihrem eigenen Haus herausgefunden, und da beide Häuser sich glichen wie ein Ei dem anderen, mußte es hier wohl auch gehen. Nach kurzem Zögern ging sie nach hinten, wo eine Hintertür in einen angebauten Stall führte, in dem zu Lebzeiten des Vaters lustig die Hühner gegackert hatten. Beide Schwestern hatten allerdings das Federvieh aussterben lassen. Und Nelly hatte herausgefunden, daß man das kleine Stallfenster aufdrücken konnte, wenn man nur auf der richtigen Seite drückte. Ferner konnte man vom Stallfenster aus den Riegel für die Tür erreichen, die vom Stall ins Freie führte.
Es klappte alles, wie Nelly es sich vorgestellt hatte. Das Fenster ging auf, und von da aus konnte sie den Riegel der Stalltür zurückziehen. Sie drang in den Stall ein und öffnete mühelos die Hintertür zum Hause.
Hätte sie sich vorher wenigstens die Mühe gemacht, im Schuppen nachzusehen! Dessen Tür stand einen kleinen Spalt offen. Und im Schuppen wiederum stand ein Jeep.
***
Der Anruf kam abends um acht Uhr elf. Lindquist, Regner, Phil und ich hockten zu dieser Zeit wieder in der Polizeiwache von Brackstown und langweilten uns. Wir hatten vorher im Hotel ein mittelgutes Abendessen zu uns genommen und spürten, wie uns das Herumsitzen allmählich auf die Nerven ging. Und dann kam der Anruf. Lindquist nahm ihn an und hielt den Hörer von Anfang an so, daß wir mithören konnten.
»Ja, hallo?« sagte Lindquist.
»Sir, ein Anruf wegen der Zuchthäusler«, sagte die Stimme eines Polizeibeamten vorn aus dem Hauptraum der Wache. »Ich stelle durch.«
Lindquist sagte nichts dazu, er warf uns nur einen alarmierenden Blick zu. Aber wir standen bereits dicht um ihn herum und lauschten.
»Hallo…!« krächzte eine heisere, aufgeregte Stimme. »Sir, bitte Sie müssen sofort kommen… es ist etwas ganz Furchtbares passiert… ich —«
»Augenblick mal!« unterbrach Lindquist sachlich. »Mit wem spreche ich?«
»Ich heiße Ben Coocher, Sir. Aber das ist doch jetzt —«
»Mr. Coocher, wer sind Sie, und von wo aus rufen Sie an?«
»Ich bin der Pfarrer von Appleton, aber zur Zeit befinde ich mich in Clickson, Sir. Ich sammle für unseren geplanten Kindergarten in allen umliegenden Gemeinden.«
»Sie sind also in Clickson«, wiederholte Lindquist unbeirrbar und winkte Regner zu. Der hatte schon verstanden und zerrte die Karte heran. Während das
Weitere Kostenlose Bücher