0085 - Der Feuergötze
wieder diesen seltsamen, merkwürdig starren Ausdruck in seinen Augen und wußte, daß er nicht die Wahrheit gesagt hatte. Niemals hatte es an der Geröllwand einen Erdrutsch oder Steinschläge gegeben. Die Felsen wurden von einer übernatürlichen Kraft zusammengehalten. Und wenn jetzt doch ein Brocken nach unten gestürzt war, dann nicht ohne Grund.
Und noch eins sprach ganz klar dafür, daß er die Unwahrheit sagte. Seit Jahren träumte er schon davon, den antiken Tempel freizulegen. Jeder wußte das. Und nun, wo ein angeblicher Erdrutsch ein Loch geschaffen hatte, wollte er ihr ernstlich einreden, daß er nicht sofort die lang ersehnte Chance ergriffen hätte und in das Loch gekrochen war?
Sie machte ihn mit ihrer Überlegung vertraut. Er schien irritiert, faßte sich jedoch sofort wieder.
»Glaubst du, ich möchte, daß mir ein paar Gesteinsbrocken auf den Kopf fallen? Nein, ich bin doch kein Selbstmörder! Und nun beenden wir dieses dumme Thema, ja? Was macht der Teppich, an dem du arbeitest?«
Ahlem ließ sich nicht ablenken. »Du bist mit Djamaa in diesem Tempel gewesen«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Aber nur du allein bist zurückgekommen. Wo ist Djamaa?«
Diese Frage verwirrte ihn sichtlich.
»Djamaa, ja«, murmelte er, »ich bin mit Djamaa… wo ist er geblieben?«
Jetzt sprach er die Wahrheit, das spürte Ahlem deutlich. Er wußte wirklich nicht, wo sein Leibwächter war. Aber er mußte es wissen! Schließlich war er mit Djamaa zusammen gewesen, bis… was passiert war?
Ganz plötzlich überkam Ahlem eine Ahnung. War es möglich, daß er unter irgendeinem… Bann stand? Unter dem Bann übernatürlicher Kräfte, die in der Felsenhöhle schlummerten? Ober unter dem Bann dieses Zauberamuletts, das Djamaa und Farhat einem Mann namens Zamorra entwendet hatten?
Sie fragte ihn nach dem Amulett. Sofort mußte sie erkennen, daß sie damit einen Fehler gemacht hatte.
»Habe ich dir nicht heute mittag befohlen, dieses Amulett zu vergessen?« fuhr er sie barsch an. »Gelten meine Befehle nichts mehr in diesem Haus?«
»Aber…«
»Kein Aber! Geh mir aus den Augen, Ahlem! Eine Tochter, die ungehorsam ist, ist nicht meine Tochter.«
Ahlem erkannte, daß er es ernst meinte. Sie wollte ihn nicht reizen. Dadurch konnte alles nur noch viel schlimmer werden.
Wortlos ging sie.
Aber sie ging nicht weit, nur bis ins Vestibül. Von dort aus konnte sie die Tür der Bibliothek im Auge behalten.
Er war der Vater, und sie war die Tochter. Dennoch schien es ihr jetzt so, als seien die Rollen vertauscht worden, als sei nicht er für sie verantwortlich, sondern sie für ihn. Mehr denn je war sie davon überzeugt, daß er Hilfe brauchte. Und wenn ihre Mutter ihm diese nicht gewähren konnte oder wollte, dann mußte sie sich um ihn kümmern.
Sie wartete auf ihn, fast zwei Stunden. Längst war die Sonne untergegangen. Die Nacht hatte ihre Herrschaft angetreten.
Endlich kam er aus der Bibliothek. Er blickte weder nach rechts, noch nach links. Mit Schritten, die ihr irgendwie abgehackt und hölzern vorkamen, ging er zum Westflügel der Villa hinüber, dorthin, wo die Wirtschaftsräume untergebracht waren. Unbemerkt folgte sie ihm.
Er ging in die Küche. Ahlem wartete draußen, in eine Türnische gepreßt.
Schon nach einer guten Minute kam er wieder zum Vorschein.
Ahlem glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Ihr Vater hielt zwei große Essenskübel mit Henkeln in den Händen.
Ihr Vater und Essenskübel - es war unvorstellbar!
Sie sah, wie er - immer noch in diesem eigentümlichen Gang - Richtung Gartenterrasse ging, die sich vor dem ganzen rückwärtigen Teil der Villa erstreckte.
Ahlem ging ihm nicht sofort nach. Zuerst mußte sie wissen, was es mit diesen absurden Kübeln auf sich hatte. Sie öffnete die Küchentür. Lucia, die italienische Köchin, kam ihr entgegen.
»Was bedeutet das?« fragte Ahlem, ohne sich lange mit einer Vorrede aufzuhalten. »Was soll mein Vater mit diesen Essenskübeln?«
Bereitwillig gab die Köchin Auskunft. Das Essen, das er abgeholt hatte, war für die Bettler bestimmt, die immer vor dem unweiten Staatsmuseum und der Cathedrale de St. Cyprien et St. Louis herumlungerten.
Selten hatte Ahlem einen größeren Unsinn gehört. Ihr Vater gehörte nicht zu den mildtätigsten Menschen auf dieser Welt. Und in diesen Bettlern hatte er immer nur Pack gesehen, das zu faul zum Arbeiten war. Niemals hatte er auch nur eine Zehn-Millimes-Münze für diese Leute übriggehabt. Und nun
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