0087 - Schrei, wenn dich die Schatten fressen!
Dämmerlicht. Schemenhaft nur war die an der Garderobe hängende Kleidung zu erkennen. Mary schloß die Tür. Die Diele war schmal, mehr nur ein Korridor.
Mary stellte den nassen Schirm in den Ständer und zog ihren Mantel aus, den sie an den Haken hängte. Erst jetzt machte sie Licht und ging in den Livingroom, der, durch einen Vorhang abgetrennt, auch die Küche beherbergte.
Es war eine kleine Wohnung. Zwei Zimmer, ohne Bad, und die Toilette lag ein halbes Stockwerk tiefer. Mary Selnick mußte sie sich mit einer anderen Familie teilen.
Sie betrat den Wohnraum und sah wieder die alten, zerschlissenen Möbel vor sich. Als sie heirateten, hatten sie und Hank sich die Möbel gekauft. Es waren keine teuren Stücke gewesen, aber doch hing Mary sehr daran. Vor allen Dingen jetzt, wo ihr Mann nicht mehr war.
Da stand sein Lieblingssessel, der mit der hohen Lehne und der Fußstütze, die ausfahrbar war, damit man das Möbelstück auch als Fernsehsessel benutzen konnte. Hier hatte Hank immer gesessen und über die Ungerechtigkeit in der Welt geschimpft. Und Mary hatte ihm zugehört. Schweigend, ohne seine Vorträge zu kommentieren.
Nun war Hank tot. Niemand würde ihr jetzt Vorträge halten, denn Mary hatte nicht mehr vor zu heiraten, und Freunde besaß sie auch keine.
Sie war allein. Mary hob die Füße hoch und lehnte sich noch stärker zurück, so daß der Sessel in die Position rutschte, in der Mary halb lag und auch fernsehen konnte.
Der Apparat war aus.
Doch irgend etwas flimmerte auf der Mattscheibe. Es bewegte sich hin und her, huschte über die graue Fläche, als wäre es ein Schatten.
Schatten?
Auf einmal fielen ihr die Geschehnisse am Grab wieder ein. Dort hatte Mary auch einen Schatten gesehen.
Ein huschendes Etwas, das aus dem Sarg gekommen war.
Vielleicht war dies die Seele des Verstorbenen? Aber wie sollte sie jetzt auf den Bildschirm des Fernsehapparates gelangen.
Mary war das nicht geheuer, und sie spürte, wie eine Gänsehaut über ihren Rücken lief.
Sie setzte sich aufrecht hin und stemmte ihre Hände flach auf die Sessellehnen. Dieser Schatten hatte sie beunruhigt. Mary schob den Sessel wieder in seine ursprüngliche Stellung und stand auf.
Mit vorsichtigen Schritten näherte sie sich dem Fernseher, »Hallo!« rief sie. »Ist hier jemand?«
Keine Antwort.
Jetzt wurde sie konkreter und rief den Namen ihres Mannes. »Hank, bist du es? Zeige dich doch, auch wenn du nur als Geist erschienen bist. Hauptsache, du hast es geschafft, du bist bei mir! Hank, ich bitte dich!«
Sie blieb stehen und drehte sich dabei im Kreis. Ihre Blicke durchforschten das Zimmer, die Augen waren weit aufgerissen, und sie glaubte, daß Hank, der Verstorbene, ihr ein Zeichen geben würde.
»Bitte, Hank, melde dich…«
Ihr wurde schwindlig. Noch eine Drehung, und sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie taumelte und fiel, hatte aber Glück auf die Couch zu fallen.
»Oh, mein Gott, ist mir übel«, flüsterte sie und wollte aufstehen, als ihr Blick plötzlich auf die Wand neben der Tür fiel.
Dort bewegte sich etwas.
Ein Schatten?
Mary Selnick stützte sich auf ihren angeschwollenen Arm. Ihre Augen wurden noch, ihre Lippen begannen zu zittern, die Wangenmuskeln zuckten, denn die Umrisse des Schattens, die waren ihr gut bekannt.
Sie gehörten ihrem Mann.
Hank Selnick war zurückgekehrt!
***
Der Schatten hielt sich schräg an der Wand. Er sah perspektivisch verkehrt aus, aber Mary Selnick erkannte sofort, daß es ihr Mann war und kein anderer.
Plötzlich klopfte ihr Herz schneller. Sie spürte das harte Schlagen gegen die Rippen, vor Aufregung trat ihr der Schweiß auf die Stirn und bildete dort eine kalte Schicht.
Es war aber auch die Angst. Obwohl sie sich nichts sehnlicher als die Rückkehr ihres Mannes gewünscht hatte, wußte sie jetzt nicht, wie sie reagieren sollte.
Mary blieb sitzen. Ihre Hände hatte sie fest um die Sessellehnen gekrallt, stoßweise ging der Atem.
»Hank?« Sie wagte kaum, den Namen ihres Mannes auszusprechen. So als könnte sie es immer noch nicht glauben, ihn bei sich zu haben oder vielmehr seinen Schatten.
Er antwortete. Himmel, er sprach. Ja, das war seine Stimme, wie sie sie all die Jahre über gehört hatte.
»Mary, verstehst du mich?«
»Ja, Hank.«
Die Stimme kam ihr seltsam weit vor, als würde eine ganze Galaxis dazwischenliegen. So fern, so hallend, und doch so verzweifelt und auch hart.
»Du hast gewünscht, daß ich zurückkehre?«
»Das habe ich,
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