0087 - Schrei, wenn dich die Schatten fressen!
Hank!«
Lachen erklang. Spöttisch und auch siegessicher. Der Schatten wanderte. Er glitt an der Wand entlang, streifte die Uhr und wurde zu einem abstrakten Gebilde, als er von der Sessellehne geknickt wurde. Dieses Sitzmöbel stand Mary gegenüber, und dann wanderte der Schatten auf sie zu.
Immer näher kam er. Gleichzeitig spürte Mary auch die Kälte, die der Schatten ausströmte.
Es war nicht die normale Kälte einer existenten und greifbaren Welt, sie schien aus den unendlichen Weiten des Alls zu kommen. Und sie war grausam, so daß sie sich wie ein Reif um den Körper der Frau legte, als sie die erreicht hatte.
Mary ließ sich zurücksinken. Mit dem Rücken fiel sie gegen den Stoff der Lehne, doch sie spürte es nicht. Sie merkte nur die Kälte, die immer mehr von ihr Besitz ergriff.
»Spürst du mich, Mary?« fragte die Stimme.
»Hank, ich spüre dich!« Die Antwort war nur mehr ein Hauch. »Du du bist zurückgekehrt?«
»Nein, nicht ich. Es ging nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Verzeih bitte…!«
»Aber dein Schatten… wo warst du?«
»Drüben war ich.«
»Im im Himmel?« Stockend lösten sich die Worte der Frau von ihren Lippen.
»Nicht dort!« Die Antwort wurde von einem Lachen begleitet. »Man wollte mich wohl da nicht haben, was ich auch verstehen kann. Ich war aber auch nicht in der Hölle, sondern in einem Zwischenreich, dessen Herrscher ich kennengelernt habe.«
»Wer ist es?«
»Der Spuk!«
Als Mary nichts sagte, sprach der Schatten. »Ich habe viele Leidensgenossen kennengelernt. Die meisten wollen dort raus, aber sie können nicht. Und ich habe Dämonen getroffen. Oder vielmehr die Seelen getöteter Dämonen. Ich habe sie gesehen, wie sie heulten und klagten, wie sie zur ewigen Verdammnis verurteilt worden waren und das Reich nicht verlassen können, da sie durch die Kraft des Guten umgekommen sind. Aber ich kann mein Reich verlassen, Mary, ich bin kein Dämon.«
»Wie bist du dorthin gekommen?« hauchte Mary.
»Du weißt, womit ich mich als Lebender beschäftigt habe«, erwiderte der Schatten. »Ich konnte mich sehr gut auf meinen Tod vorbereiten und habe eine Beschwörung durchgeführt, die mir den Weg drüben ebnen sollte. Leider war sie nicht stark genug, so daß ich im Reich der Schatten landete, aber ich kann mit dir in Verbindung treten, das allein ist wichtig.«
»Wirst du jetzt bei mir bleiben?« fragte Mary.
»Ja und nein.« Der Schatten hatte sich auf ihren Körper gelegt und sie völlig eingehüllt. Mary spürte ein dumpfes Brausen im Kopf, wie sie es nie erlebt hatte. So etwas wie Mattheit überkam die Frau. Sie merkte, daß etwas Fremdes, ihr aber doch Vertrautes in das Hirn strömte und ihren eigenen Willen beeinflußte.
Es waren die Gedanken ihres Mannes.
Hans Selnick oder vielmehr sein Geist nahm Besitz von seiner Ehefrau.
Auf einmal war auch der Schatten weg. Nur noch die Frau hockte im Sessel. Kalkweiß im Gesicht, mit schwergehenden Atem.
›Jetzt bin ich bei dir.‹ hörte sie die Stimme. ›Verstehst du mich?‹
»Ja.«
›Das ist gut. Und nun hör genau zu, was ich dir sage. Aber zuvor möchte ich dich noch fragen, ob du bereit bist, alles für mich zu tun?‹
»Ich bin bereit.«
›Wunderbar, meine Liebe.‹ Mary Selnick lächelte, als sie diese Worte hörte. Meine Liebe, so hat er sie immer genannt, als er noch lebte. Ja, er war der gleiche geblieben. Und Mary wurde in diesen Augenblicken klar, daß sie alles für ihn tun würde, wenn er nur bei ihr blieb.
»Was soll ich machen?« fragte sie flüsternd.
›Du erinnerst dich doch an diese Person, die mir damals ein Bein gestellt hat.‹
»Meinst du die Privatdetektivin?«
›Genau. Jane Collins heißt sie.‹
»Was soll ich bei ihr?«
›Ihr einen schönen Gruß von mir bestellen‹, erwiderte die Stimme in ihrem Hirn. Aber Mary hörte genau den Haß heraus, mit dem die Worte gesprochen waren. Im normalen Leben hatte er mit dieser Frau nicht abrechnen können, nun versuchte er es als Toter, als Wanderer zwischen den Welten.
»Mehr brauche ich nicht zu machen?« fragte Mary.
›Oh doch.‹ Jetzt lachte der Schatten. ›Du hast noch eine besondere Aufgabe zu erfüllen, meine Liebe.‹
»Und welche?«
›Du wirst diese Detektivin töten!‹
***
Mary Selnick zuckte zusammen. Sie hatte gewußt, daß ihr Mann die Detektivin haßte, aber daß der Haß noch über seinen Tod hinausging, das war ihr unvorstellbar. Und jetzt war sie dazu ausersehen, den Haß ihres Mannes zu
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