0088 - Der Guru aus dem Totenreich
all das beeindruckte ihn nicht so sehr wie der weißbärtige Alte, der auf einem Messingbett saß. Schon das Bettgestell paßte so gut in die Umgebung wie ein Sudanneger nach Alaska.
Nach der Art der Inder hockte Brahmavadru auf der zerschlissenen Matratze und schaute ihn an. Sein Alter war kaum zu schätzen, doch Professor Zamorra hätte jeden Eid geschworen, daß der Hindu-Mönch schon weit über achtzig war.
»Ich bin siebenundachtzig«, sagte Brahmavadru mit der Stimme eines rüstigen Sechzigers. »Ich freue mich wirklich, Ihnen zu begegnen, Professor Zamorra.«
Augenblicke, in denen den Dämonenjäger seine Schlagfertigkeit hoffnungslos im Stich ließ, waren selten. Jetzt war so einer gekommen.
»Wo… woher kennen Sie mich?«
Der weise Alte schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein, Professor. Leider habe ich noch nie eines Ihrer Werke gelesen. Wenn die Götter mir die Zeit lassen, werde ich das jedoch nachholen.«
Endlich wußte Zamorra Bescheid.
»Sie lesen… in meinen Gedanken?«
»Seit Sie auf dem Parkplatz vor der Jama Jasjid Moschee angekommen sind, ja. Das braucht Sie nicht zu beunruhigen. Beunruhigt bin ich. Sie sind ein Forschender. Ein Suchender. Und Sie haben etwas an sich am Körper, das ich ebenfalls spüre. Was ist es?«
Zamorra überlegte nur Sekunden. Er baute auf seine Menschenkenntnis. Und wäre dieser Alte ihm mit widernatürlichen Fähigkeiten begegnet, hätte sein Amulett ihm das mitgeteilt. Doch das Medaillon Leonardo de Montagnes lag kühl auf seiner Brust. Es sprach im Augenblick auf keine wie auch immer gearteten dämonischen Strömungen an.
Brahmavadru mußte — wenn auch durch Kulturkreise getrennt — etwas ähnliches wie er selber sein. Ein Beherrscher der Weißen Magie. Der guten Magie. Zamorra spürte instinktiv, daß sie trotz aller Unterschiede am selben Strang zogen.
»Sie haben durchaus recht«, meinte Brahmavadru in seiner altväterlichen Art. »Darf ich Sie auch begrüßen, Miß Nicole? Sie kamen schon sehr oft mit anders gearteten Wesen zusammen.«
Das war eine Feststellung.
Nicole Duval akzeptierte es überraschend schnell, daß sie hier offensichtlich auf einen hochgradigen Telepathen gestoßen waren.
»Würden Sie uns allein lassen?« fragte der Weise in Richtung des Sikhs. Der verschränkte die Hände vor der Brust und verbeugte sich devot. Sein Taxifahrergrinsen hatte er verloren.
»Warten Sie unten auf uns«, rief Zamorra ihm nach, als er eben durch die Dachluke verschwinden wollte.
»Ich werden warten, Sir. Meine Ehrerbietung, Meister.«
Der »Meister« lächelte sein unergründliches Buddha-Lächeln.
»Er ist ein Sikh«, sagte er. »Ein tüchtiger Sikh. Er hat Ihnen sehr geholfen, Professor Zamorra.«
»Das denke ich inzwischen auch. Darf ich voraussetzen, daß Sie bereits wissen, warum ich nach einem Mann, wie Sie einer sind, gesucht habe?«
»Sie dürfen.«
»Sie hatten mir eine Frage nach einem Gegenstand gestellt, den ich mit mir trage. Sie wissen inzwischen auch, worum es sich handelt?«
Brahmavadru schüttelte den Kopf mit dem verfilzten weißen Haar.
»Nein. Meine Macht reicht nicht, diesen Gegenstand zu erkennen. Ich kann nur ahnen, daß Sie ihn um den Hals tragen. Ein Medaillon?«
Zamorra knöpfte sein Seidenhemd auf und holte das Amulett heraus. Brahmavadru ergriff es, als hätte er noch nie etwas Kostbareres in Händen gehalten. Voller Andacht schaute er das funkelnde Metall an, fühlte es, griff es mit seinen Fingern ab.
»Es gibt auch bei uns eine Legende über dieses Medaillon«, sagte er. »Sie ist uralt.«
Zamorra räusperte sich. Seine Stimmbänder wollten nicht mehr so, wie er wollte.
»Die gibt es?«
»Sie stammt aus jener Zeit, die man in Europa das Mittelalter nennt. Aus Indien geholte Dämonen unterlagen damals der Macht eines Sultans. Das war noch weit vor den Jahren Ihres Urahnen Leonardo de Montagne.«
Zamorra wußte zwar, daß das Amulett wesentlich älter war. Er kannte seine Herkunft nicht einmal. Was wußte dieser Hindu-Mönch darüber?
Brahmavadru schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es auch nicht«, sagte er. »Es sind Legenden. Legenden bergen immer nur einen Kern der Wahrheit. Vielleicht werden Sie eines Tages den Ursprung dieses Amuletts erkennen. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen oder gar Prognosen zu treffen. Wenn die Zeit kommt, ist sie gekommen.«
Zamorra irritierte es, daß Brahmavadru in seinen Gedanken las.
»Ich brauche das auch nicht zu tun«, meinte der Alte in diesem Augenblick,
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