0088 - Der Guru aus dem Totenreich
Schwingen ganz ausbreiten. Er räkelte sich wohlig. Die letzten Falten in seinen Flügeln glätteten sich. Rudrasvin war frei.
Varuna würde ihn kein zweites Mal einfangen können. Varuna war weit im Reiche des Lichts. Es war ihm nicht so ohne weiteres gestattet, von sich aus auf die Erde wiederzukehren, wo er nur in der Andacht und in der Religion seiner Gläubigen weiterlebte.
Rudrasvin erhob sich probeweise ein paar Meter in die Luft, genoß das flatternde Rauschen seiner Echsenschwingen, sonnte sich im Gefühl der Unbesiegbarkeit. Die Waffen der Irdischen vermochten ihm nichts anzuhaben. Gegen die war er gefeit.
Im Fliegen erweiterte Rudrasvin das Loch über sich, das noch Sadhu Shandri, sein willfähiger Diener, mit bloßen Händen gegraben hatte. Rudrasvin spürte die Nähe der verhaßten Menschen, die er seine Pfeile kosten lassen wollte. Pfeile aus einem nie versiegenden Reservoir. Er hatte Lepra, Cholera, Malaria, Gelbfieber und die Pest zu vergeben. Er konnte langsam und er konnte schnell töten. Meist tötete Rudrasvin langsam, kostete vom Entsetzen und vom Grauen jener, die er quälte, berauschte sich daran.
Schließlich lag sein Verließ mit dem Labyrinth aus Gängen und blinden Fluren für immer hinter ihm zurück. So meinte Rudrasvin, der Drachenköpfige, in diesem Augenblick noch.
Er stand draußen, entfaltete wieder die Flügel, um sich frei in die Lüfte zu erheben, um als Schatten des Todes über die Erde zu schweben.
Doch dann fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.
Zwei Lichtpunkte näherten sich dem Satansgrab. Von seinen Mentalausflügen, die die verbotenen Mantras ihm gestattet hatten, wußte er bereits viel über diese neue Welt, fünftausend Jahre nach seiner Verbannung. Ein Auto fuhr heran. Mt seinem ersten Opfer am Steuer…
Ein heiseres, erfreutes Krächzen entrang sich seinem Schnabel. Eine goldene Hand legte einen Pfeil an die Sehne. Rudrasvin zielte.
***
Modjir Brahmul fluchte lästerlich, als er eine volle Stunde lang das Gepäck seines Gastes durchsucht hatte.
Natürlich hatte sein erster Blick dem Hals Professor Zamorras gegolten. Doch das Amulett und die silberne Kette hingen nicht mehr daran.
Er hatte den Mann auf der Straße von Nagpur sofort erkannt. Sein Bild war einmal in einer englischen Zeitung erschienen, als er noch auf der britischen Insel studierte.
An den Artikel konnte er sich nicht mehr im einzelnen erinnern, wußte aber noch so viel, daß der Herr von Château de Montagne einem Spukwesen in den schottischen Highlands das Handwerk gelegt haben sollte. Der Reporter hatte sich damals ziemlich hämisch über die angeblichen Aktivitäten des Parapsychologen ausgelassen.
Dieser Reporter war ein Dummkopf.
Ein Inder glaubt durchaus an übernatürliche Ereignisse, an Dämonen. Ihre Sinne sind noch nicht so abgestumpft wie die ihrer westlichen Artgenossen, denen technische Errungenschaften, ein Leben mit allen Bequemlichkeiten und die Dauerberieselung durch das Fernsehen die Augen für alles Jenseitige verschlossen hatten.
Doch Dämonen und Geistwesen lebten. Niemand wußte das besser als Modjir Brahmul. Hatte er sich doch selbst von frühester Jugend an mit Dämonologie beschäftigt. Für ihn war nicht mehr alles ein Buch mit sieben Siegeln, was anderen unverständlich erschien und was sie mit einem unwirschen Kopfschütteln abtaten, wenn sie nicht selbst einmal in den Bannkreis überirdischer Wesenheiten gerieten, wenn das Grausen des Ungeglaubten nicht selbst mit eisigen Fingern nach ihren Herzen griff.
Modjir Brahmul hatte deshalb auch die westliche einschlägige Literatur studiert. Er fand sie wesentlich interessanter und ergiebiger als ihre sogenannten fachwissenschaftlichen Werke, die alles nur mit rationaler Vernunft erklären wollten und ihren Lesern dabei doch nur Glauben abverlangten. Denn Erklärungen für paranormale Erscheinungen fanden auch diese selbsternannten Kluggeister nicht. Sie taten es als Halluzination und Nervenüberreizung ab, wenn die Geister der anderen Reiche mal in die Geschehnisse dieser Welt eingriffen.
Das Amulett auf dem Foto hatte ihn schon damals fasziniert. Es hatte wie ein gewöhnlicher Glücksbringer um den Hals gehangen. Wie auf der Straße in Nagpur.
Unter Schwierigkeiten hatte der Student Modjir Brahmul Al Fujieb sich einen Originalabzug dieses Fotos und eine Ausschnittvergrößerung des Amuletts besorgt.
Wie oft hatte er sich dieses Bild betrachtet! Es zeigte nur die eine Seite des Medaillons. Die mit
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