0088 - Der Guru aus dem Totenreich
den Bogen, steckte den Pfeil zurück in den Köcher. Der Inder näherte sich dem Wesen, das mit zusammengefalteten schwarzen Flügeln fast dreimal so hoch war wie er. Modjir Brahmul fühlte keine Furcht. Nur wilder Triumph war in ihm aufgestiegen. Tief in seinem Innersten hatten sich eben doch Zweifel befunden, ob die Atharvavedas auch im gewünschten Sinn wirken würden. Diese Zweifel waren jetzt ausgeräumt. Er hatte keinen Gegner mehr zu fürchten. Modjir Brahmul Al Fujieb hatte sein hochgestecktes Ziel erreicht. Er war der Beherrscher eines Dämons und dessen Zauberkräften.
Langsam trat er näher. Rudrasvin wankte zurück.
»Bleib!« befahl der Inder und blieb ebenfalls stehen. Ein Röcheln klang aus dem Echsenschnabel, doch der Dämon gehorchte.
»In die Knie!« rief Modjir Brahmul grimmig.
Rudrasvin beugte sie.
»In den Staub mit dir!«
Der Dämon sah seinen Herrn mit funkelnden Augen an. Ganz langsam nur kam er auch diesem Befehl nach. Die Echsenaugen blieben starr auf den Inder gerichtet, als das Wesen sich auf dem felsigen Boden ausstreckte, die Fledermausflügel wie zum Schutz über sich gebreitet. Die Krallen zuckten.
Ein satanisches Grinsen legte sich auf die Züge Modjir Brahmuls und blieb dort wie festgefroren.
»Sehr gut«, meinte er ruhig. Er sprach in der Art, wie man zu gezähmten Raubtieren redet, bei denen man sich nie ganz sicher ist, ob nicht doch ihre alte Wildheit jederzeit wieder zum Vorschein kommt.
Aber Rudrasvin war keine Raubkatze. Er war ein Dämon. Und Rudrasvin war bezwungen. Endgültig. So wie ein Vogel nicht mehr fliegen kann, wenn man ihm die Flügel entsprechend gestutzt hat.
»Warte in deiner Gruft auf mich«, fuhr der Inder langsam fort. »Du wirst sie nur verlassen, wenn ich dich rufe. Doch dann wirst du gedankenschnell bei mir sein und meine Befehle ausführen.«
Den ersten Befehl hatte Modjir Brahmul schon.
»Töte morgen nacht Professor Zamorra!«
***
Der Inder und sein Dämon befanden sich nicht allein zwischen den Hügeln. Sie hatten einen Zeugen gehabt.
Rayanagu war nicht weggelaufen, wie sein Sadhu ihm gesagt hatte. Seine fast schon hündische Ergebenheit dem heiligen Mann gegenüber hatte es nicht zugelassen, daß er einfach verschwand. Die Sorge um Sadhu Shandri war auch noch stärker gewesen als die Furcht vor dem Drachenköpfigen, der plötzlich aus der Erde getaucht war. Und so hatte Rayanagu gesehen, was sich zwischen den Hügeln abspielte.
Trauer nistete sich in sein Herz und wich nicht mehr. Er ahnte, daß mit seinem Herrn Schreckliches geschehen sein mußte. Die guten Götter hatten ihre Hände von Sadhu Shandri genommen. Sein Guru lebte nicht mehr. Das wurde Rayanagu zur Gewißheit, als er das Zusammentreffen des Dämons mit einem Sterblichen beobachtete.
Flach drückte sich der Krüppel auf die Erde. Er wagte es nicht mehr, den Kopf zu heben. Seine Armstrünke zitterten. Entsetzen verschloß ihm würgend die Kehle. Sein Gaumen fühlte sich trocken an wie ein Stück Leder, das tagelang in der Sonne gelegen war. Sogar das Schlucken bereitete ihm Schmerzen.
Erst als der Motor wieder aufheulte, getraute sich Rayanagu aus seiner Deckung hervor. Er sah noch, wie das kastenförmige Auto wendete. Der Drachenköpfige aber war verschwunden, als hätte die Erde sich unter ihm aufgetan und ihn verschluckt.
Rayanagu klopfte sich umständlich den Staub vom Dhoti. Er hatte den Inder erkannt. Das Bild des Maharadscha-Nachfahren wurde als bunter Farbdruck in den Läden von Chhinwara verkauft. Die Bevölkerung verehrte die alten Fürsten noch, auch wenn die Regierung sie schon längst entmachtet hatte. Ein Maharadscha war ihren Vorstellungen nach ein gottähnliches Wesen, das man verehren mußte. Und so stellte man ihre Bilder zusammen mit den Abbildungen und Statuetten anderer Götter auf den Hausaltar, vor dem man Schutz und Segen für sich und seine Familie erflehte.
Doch eines wußte Rayanagu jetzt: der Maharadscha von Chhinwara war kein guter Gott. Er wollte töten. Er war vermutlich auch daran schuld, daß sein Sadhu nicht mehr zurückkam.
Und ein Name war gefallen.
Professor Zamorra.
Rayanagu wollte diesen Mann finden und warnen. Auf eine geheimnisvolle Art und Weise hatte dieser Name ihm Vertrauen eingeflößt und ihm ein Stück Lebensmut zurückgegeben.
***
Als Zamorra die Augen aufschlug, fiel sein erster Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr.
Zehn nach zwei.
Die Nacht lag draußen vor dem kunstvoll vergitterten Fenster wie ein
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