0094 - Alle auf einen Schlag
Martins einer unserer V-Leute war.
An diesem Vormittag entschloss sich Martins gegen zehn Uhr, etwas zu tun, was ein V-Mann niemals tun soll: das FBI direkt aufzusuchen. Martins hatte seine Gründe dafür.
»Ich muss zur Bank wegen der Hypothekenzinsen«, sagte er zu seiner Frau. »Gegen zwölf werde ich wieder zurück sein.« Er setzte sich in seinen klapprigen Ford und fuhr los. Wir wissen nicht, ob er darauf achtete oder ob er sich zu sicher fühlte. Vielleicht machten es die Burschen auch so raffiniert, dass es Martins nicht auffiel. Jedenfalls wurde der Wirt verfolgt bis zum Districtgebäude.
Er ging zum Auskunftsschalter und sagte: »Ich muss euren Boss sprechen.«
Der Kollege hinter dem Schalter besah sich den Mann. Sauber gekleidet, aber nicht sehr gut. Der Aussprache nach kam der Mann aus dem Hafen. Er sprach einen fast klassischen Hafenslang.
»In welcher Angelegenheit?«, fragte er.
Roger Martins zögerte, dann murmelte er: »Das kann ich nur dem Chef persönlich sagen.«
Sein Kollege zögerte seinerseits, schließlich bat er: »Sagen Sie mir Ihren Namen.«
Martins tat es. Der Kollege ließ sich mit dem Chef verbinden. Mister High dachte eine Sekunde nach, dann sagte er: »Fragen Sie ihn nach dem schottischen Whisky.«
Das war das Kennwort für Martins. Der Kneipenwirt grinste und erwiderte prompt: »Die nächste Lieferung muss ein paar Tage früher kommen. Sonst kriege ich Schwierigkeiten mit dem Zoll.«
Mister High nickte, als ihm die Antwort durchgegeben worden war.
»Bringen Sie den Mann persönlich rauf. Nehmen Sie den Lastenaufzug und achten Sie darauf, dass er von möglichst wenig Leuten gesehen wird.«
Mister High legte den Telefonhörer auf und schob die Akten auf seinem Schreibtisch beiseite. Der V-Mann Martins kam also gegen alle Vorsichtsmaßnahmen persönlich zum FBI. Das musste einen außergewöhnlichen Grund haben.
Als Martins hereingeführt wurde, deutete der Chef auf einen Sessel und sagte in seiner ruhigen, vornehmen Art: »Nehmen Sie Platz, Mister Martins. Was führt Sie zu mir?«
Roger Martins schlug die Beine übereinander. In dieser vornehmen Umgebung fühlte er sich ein wenig befangen.
»Schwer zu sagen«, murmelte er. »Aufschreiben hätte ich es schon gar nicht können, deswegen bin ich ausnahmsweise mal selber gekommen. Im Hafen tut sich was.«
»Wie meinen Sie das?«
Martins zuckte die Achseln.
»Schwer zu beschreiben. Man schnappt eine Menge auf, aber natürlich nicht alles. Es herrscht eine gewisse geladene Atmosphäre. Wissen Sie, es kommt mir vor wie kurz vor dem Ausbruch eines Gewitters. Die ganze Luft ist still, aber es ist eine unheimliche Stille. Die Ruhe vor dem Sturm.«
Mister High nickte ernst.
»Ich glaube, ich verstehe, was Sie ungefähr meinen. Handelt es sich nur um bestimmte Gebiete, oder schließen Sie den ganzen Hafen ein?«
»Den ganzen Hafen«, sagte Martins sofort.
»Glauben Sie, dass irgendeine Bande einen besonders großen Coup vorhat?«
Roger Martins schob nachdenklich die Unterlippe vor. Dann sagte er: »Ich habe den idiotischen Eindruck, als ob überhaupt nur noch eine einzige Bande im Hafen existiert. Es gibt neuerdings keine Rivalenkämpfe mehr, es gibt keine Feindschaften mehr. Die Boys von der Borkson-Gang vertragen sich auf einmal wunderbar mit denen von der Snyder-Gang - und so ist es überall.«
»Das ist in der Tat sehr eigenartig. Haben Sie irgendwelche Gründe für dieses eigenartige Verhalten der rivalisierenden Banden?«
Roger Martins klatschte sich auf den Oberschenkel. Er hatte seine Befangenheit überwunden.
»Wissen Sie, Sir«, sagte er unwillkürlich, denn sonst kam ihm die achtungsvolle Anrede »Sir« nie über die Lippen, »wenn es nicht so ein hirnverbrannter Irrsinn wäre, würde ich sagen: Die Banden haben sich unter einer Oberführung zusammengeschlossen. Aber das ist natürlich Blödsinn. Das hat noch keiner im Hafen geschafft, und wer sollte es schon fertig bringen? Von den Gang-Führern, die augenblicklich im Hafen regieren, hätte kein einziger die Macht dazu, alle anderen unter seine Herrschaft zu zwingen. Aber es sieht so aus, als wäre es doch so.«
Mister High nickte ernst. Als New Yorker FBI-Chef wusste er einmal, wie ernst man die Informationen nehmen musste, die Roger Martins lieferte. Und zum anderen wusste er, dass es noch mehr Anzeichen dafür gab, dass im Hafen über kurz oder lang eine große Auseinandersetzung bevorstand.
»Vielen Dank, Mister Martins«, sagte er. »Ihre Informationen
Weitere Kostenlose Bücher