01 Arthur und die vergessenen Buecher
Fenster, beobachtete die wenigen Menschen auf dem Bürgersteig, die sich mit dem Regen und dem Wind herumschlugen, und freute mich darüber, im Warmen und Trockenen zu sitzen. Da sah ich einen Mann die Straße überqueren. Es war ein ganz gewöhnlicher Mann, nicht zu groß, nicht zu klein, nicht zu dick, nicht zu dünn, gekleidet in einen dunklen Regenmantel und mit einem Schirm in der Hand. Und trotzdem spürte ich, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Der Schirm, zum Beispiel: Während die anderen Passanten ihre Schirme ständig hin und her drehten, damit sie nicht vom Wind umgeschlagen wurden, trug er seinen Schirm ganz aufrecht in der Hand – und kein Windstoß rüttelte daran. Es war, als bewege er sich in einem windfreien Vakuum, so wie im Auge eines Wirbelsturms.
Er kam genau auf unser Haus zu. Plötzlich sah er auf zu mir. Seine Augen lagen im Schatten seiner Hutkrempe, doch es kam mir so vor, als seien sie zwei glühende Kohlen. Er hob seine Hand wie zu einem spöttischen Gruß, und es war mir, als löste sich eine dunkle Form von seinem Körper, die auf mein Fenster zuschwebte. Von panischer Angst ergriffen, sprang ich von der Fensterbank und warf mich auf mein Bett.
Wenige Sekunden später klingelte es an unserer Tür. ›Macht nicht auf!‹ wollte ich rufen, aber mein Mund war wie versiegelt. Ich lag auf dem Bett und konnte mich minutenlang nicht bewegen. Als ich mich aus meiner Starre befreien konnte, hatte mein Vater bereits die Haustür geöffnet und den Fremden begrüßt. Er musste ihn also kennen. Auch Mama kam dazu. Ich hörte, wie die drei sich im Flur unterhielten, konnte aber keine einzelnen Worte verstehen. Dann ging mein Vater mit dem Besucher in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich.«
»Das hört sich ja an wie eine Horrorgeschichte«, sagte ich. »Fehlt nur noch, dass der unheimliche Fremde Hörner unter seinem Hut hatte.«
Ich hatte gehofft, Larissa mit dieser Bemerkung etwas aufzuheitern. Die Wirkung war aber genau das Gegenteil. Sie blitzte mich verärgert an.
»Wenn du das nicht ernst nimmst, was ich erzähle, dann brauche ich ja nicht weiter zu reden«, sagte sie. »Ich dachte, ich kann dir vertrauen.«
»So war das nicht gemeint«, machte ich einen Rückzieher. »Natürlich glaube ich dir. Ich bin ...« – ich stockte – »Es fällt mir manchmal etwas schwer, das auszudrücken, was ich eigentlich sagen will.«
Puuhh! Wie sich das anhörte. In solchen Situationen fielen mir einfach nicht die richtigen Worte ein. Aber Larissa schien meine Entschuldigung zu reichen.
»Ich kam erst aus meinem Zimmer, als der Besucher das Haus verlassen hatte«, fuhr sie fort. »Meine Eltern saßen ganz aufgeregt am Küchentisch. Der Mann war ein wohlhabender Sammler, der nach einem ganz bestimmten Buch suchte. Er war bereit, dafür ein Honorar zu zahlen, von dem wir ein ganzes Jahr gut hätten leben können. Und er war außerdem bereit, die Reisekosten für meine Mutter zu übernehmen. Ich konnte meinen Eltern schlecht erzählen, welchen Eindruck ich von ihrem Besucher hatte. Stattdessen versuchte ich, sie mit anderen Argumenten von ihren Reiseplänen abzubringen. Aber meine Mutter dachte, ich wolle nur nicht alleine bei meinem Opa bleiben. Sie versuchte mich zu beruhigen und versprach mir, dass sie bald wieder zurückkommen würde.«
Sie schloss die Augen und verweilte einen Moment in ihren Erinnerungen.
»Natürlich traten sie die Reise an. Sie brachten mich zu Opa, der versprach, sich um mich zu kümmern. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Sie riefen noch ein paarmal an, aus exotischen Orten in Asien und Arabien. Immer waren sie voller Zuversicht, in wenigen Tagen wieder zurück zu sein. Und dann kam kein Anruf mehr.
Nachdem wir zwei Wochen nichts von ihnen gehört hatten, begann Opa Nachforschungen anzustellen. Wir fanden heraus, dass sie zum letzten Mal in einem Dorf an der Grenze zwischen Oman und Saudi-Arabien gesehen wurden. Von dort waren sie mit einem Geländewagen in die Wüste aufgebrochen. Sie hatten genügend Vorräte, Karten und auch ein Funkgerät dabei, aber niemand hat mehr etwas von ihnen gehört und gesehen seit jenem Tag.«
Das war heftige Kost. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare bei Larissas Erzählung aufrichteten. Ohne nachzudenken, legte ich meine Hand wieder auf ihre. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, um sie zu trösten.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Die gelben Lichterbänder von Landstraßen zogen am Fenster
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