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01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend

01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend

Titel: 01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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in der Öffentlichkeit von einem Tag auf den nächsten wie das größte Arschloch auf. Der arme Ronnie Rutter, der mich in Franz ertragen mußte. Er war mit siebzehn, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, an die Schule gekommen und war so sanftmütig, nachsichtig und rundum liebenswert, daß er es nicht einmal zum Hausvorsteher gebracht hatte. Der Höhepunkt seiner Karriere war, als er während des Zweiten Weltkriegs vorübergehend für ein Semester die Leitung von Meadhurst übernommen hatte. Ständig würgte ich ihm eins rein, wie das damals bei uns hieß, und zwar so gnadenlos, hart und unerbittlich, daß ich noch heute vor Scham im Boden versinken könnte. Einmal war ich mitten im Unterricht auf mein Pult gestiegen, hatte meinen Revolver gezogen (eine Spielzeugpistole, mit der man kleine Silberkugeln verschießen konnte, die aber Uneingeweihten wie eine tödliche Waffe vorkam) und hatte mit der hysterischen Stimme eines Cody Jarrett gebrüllt: »Schluß jetzt! Mir reicht’s! Einen Muckser, und ich knall euch ab. Alle nacheinander.« Die anderen bepißten sich fast, während Ronnie sein Bestes gab.
    »Sei ein braver Junge, und nimm die Waffe runter, wir haben noch soviel Stoff zu erledigen.«
    Ein anderes Mal fingierte ich den Brief einer französischen »Brieffreundin«, den ich mit sämtlichen obszönen Ausdrükken spickte, die ich kannte oder im Wörterbuch ausfindig machen konnte. Nach der Stunde ging ich zu ihm und fragte, ob er mir mit dem Brief helfen könne, da er eine ganze Reihe schwieriger Vokabeln enthielt.
    »Schön zu hören, daß du eine französische Brieffreundin hast, Fry«, sagte Ronnie. Und dann übersetzte er mir den Brief, wobei er sämtliche Obszönitäten aus dem Stegreif durch unverfängliche Sätze ersetzte und so tat, als sei dies der harmloseste Brief der Welt. »Ich möchte deinen dicken, prallenSchwanz lutschen« wurde zu »Ich freue mich sehr darauf, dich in England besuchen zu kommen«, und aus »Leck meine feuchte Muschi, bis ich überlaufe« machte er »In Avignon gibt es viel zu bestaunen und zu unternehmen«, und so weiter bis zum Schluß.
    Wenn ich mich recht erinnere, gebrauchte er in seiner Beurteilung an meine Eltern zum Semesterende das Wort »überschwenglich«. »Manchmal überschwenglicher, als es gut für ihn ist.« Nicht dieses ganze Gesülze von »schlechter Einfluß«, »verdorbener Charakter« und »hält sich für ungemein clever«, das die anderen bei der Gelegenheit loswerden mußten. Er lud mich sogar zum Abendessen mit seiner Frau ein. Noch heute bekomme ich einen dicken Kloß im Hals beim Gedanken an soviel Herzensgüte und Sanftmut.
    Er gehörte auch nicht zu denen, die aufgegeben hatten. In unserer hochnäsigen Arroganz gegenüber den Lehrern galt es als ausgemacht, daß man spätestens nach zehn Jahren zum zynischen Opportunisten oder zum kauzigen Exzentriker wurde. Ronnie war weder zynisch noch weltfremd und widmete sich seiner Aufgabe mit ganzer Hingabe. Disziplinarisch mochte er eine völlige Niete sein, aber er war ganz bestimmt kein Versager.
    Das erinnert mich an eine Passage aus Portnoys Beschwerden (das ich mit Lust und Wonne verschlungen hatte, ganz besonders die provokanten Wichsszenen im Badezimmer):
    Die Gesellschaft billigt nicht bloß schändliche und ungerechte zwischenmenschliche Beziehungen – sie fördert sie ... Rivalität, Konkurrenzkampf, Neid, Eifersucht, alles, was im menschlichenCharakter bösartig ist, wird vom System genährt. Eigentum, Besitz, Geld – an so korrupten Normen meßt ihr Glück und Erfolg.
    Keine umwerfende Neuigkeit, nehme ich an, aber das läßt sich von den Evangelien ebensowenig sagen, und dennoch sind darin Gedanken enthalten, die man gar nicht oft genugwiederholen kann. Nur ein Hohlkopf lehnt einen Gedanken ab, bloß weil er ihn vorher schon einmal irgendwo gehört hat.
    »Der Mensch wird sich bessern, wenn man ihm zeigt, wie er ist«, glaubte Tschechow. Vielleicht wollte Ronnie mir zeigen, wie ich war. Er hatte damit sehr viel mehr Erfolg als viele andere Lehrer, die mir erklären wollten, wie ich war, was ein himmelweiter Unterschied ist. Zuletzt quälte mich nach jeder Französischstunde bei Ronnie Rutter ein Gefühl von Übelkeit, eine Art widerlicher Überdruß, hinter dem ich sehr bald Selbst-Ekel erkannte. Kurz darauf gab ich auf und ging nun mit scheinheiliger Wut auf diejenigen los, die ihm eins reinwürgen wollten. Alle anderen Lehrer waren Freiwild, aber Ronnie war tabu.
    Die andere Sache war vielleicht

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