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01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend

01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend

Titel: 01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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macht.«
    Für die O-Levels gab es damals Noten von 1 bis 6 bei Bestehen, während man mit 7, 8 oder 9 durchgefallen war. Ich erhielt gar keine Note, kam aber zu noch größeren Ehren. Meine Arbeit wurde als nicht zensierbar eingestuft, wie der Schule in einem besonderen Schreiben mitgeteilt wurde.
    Ich glaube nicht, daß mein Vater sonderlich überrascht war, als der Brief mit den Prüfungsergebnissen in den Sommerferien eintraf. Mathe hatte ich immerhin bestanden, das war das allerwichtigste.
    Zu Beginn meines dritten Jahres, des Eintritts in die Sixth Form, entschied ich mich dafür, meine A-Levels in Englisch, Französisch und Alter Geschichte abzulegen. Mein Vater versuchte mir mit halbherzigem Idealismus einzureden, Mathematik sei eine viel größere intellektuelle Herausforderung für mich, aber ich ließ mich nicht umstimmen.
    Zwei oder drei Wochen nach meinem fünfzehnten Geburtstag war ich also Schüler der Lower VIA. Eigentlich war ich noch viel zu jung für die Sixth Form. Nicht nur altersmäßigzu jung, sondern erst recht zu jung, wenn man Gerard Vaughans Diagnose der »Entwicklungsverzögerung« Glauben schenkte.
    Zu meiner großen Freude bekam ich mit Rory Stuart einen hervorragenden Lehrer. Er hatte sich zunächst in Cambridge in klassischer Kunst und Literatur einen Namen gemacht (wobei er selbst die lebendige Verkörperung jenes göttlichen griechischen Geistes darstellte), bevor er sein Interesse für die englische Literatur entdeckte. Er brachte es bis zum Vorsitzenden der Englisch-Abteilung in Westminster, um anläßlich der Erbschaft einer Tante, die ihm Haus und umfangreiche Gartenanlagen vermachte, abermals die Richtung zu wechseln und Landschaftsgärtner zu werden. Mit köstlicher Unverfrorenheit nennt er sich RHS Gartenbau (was seinen tatsächlichen Initialen entspricht, die eingebildete Snobs der Royal Horticultural Society in Wisley aber zur Weißglut bringt) und unterrichtet nebenbei immer noch ein paar Stunden am nahe gelegenen Cheltenham Ladies’ College. Zusammen mit der Romanautorin Susan Hill hat er ein Buch über Gartenbau herausgebracht, das ich nur wärmstens empfehlen kann. Seine damaligen Schüler, die es mittlerweile in alle Welt verschlagen hat, betrachten sich als Mitglieder eines speziellen Clubs. Manchmal fragen mich Leute auf offener Straße: »Entschuldigen Sie, waren Sie nicht auch Schüler von Rory Stuart?«, und dann stehen wir da und reden stundenlang über alte Anekdoten und was wir ihm alles zu verdanken haben. Privat gab er sich wie ich ausgesprochen zugeknöpft und unnahbar, so daß man wenig über ihn wußte, aber sobald er vor der Klasse stand, sprühte er nur so vor Energie und Kreativität. Alles, was im Unterricht gesagt wurde, konnte er wie eine Blüte öffnen und eingehend studieren, so wie ein Geologe einen Stein oder ein Eichhörnchen eine Nuß untersucht: Selbst dumme und unüberlegte Bemerkungen wurden mit großem Eifer und Ernst weiterverfolgt. Jede Äußerung und jeden Gedanken betrachtete er wie eineoriginelle Entdeckung, die voller aufregender Möglichkeiten steckte.
    Nach dem, was ich bereits über meine Eltern gesagt habe, war Stuart der ideale Lehrer, wie er nur wenigen im Leben vergönnt ist. Es mag Leute geben, die ihr eigenes gescheitertes Vorwärtskommen dem Fehlen eines solchen Menschen zuschreiben. Vielleicht haben sie damit sogar recht, auch wenn ich mich nie dem alten sizilianischen Sprichwort anschließen konnte, nach dem Rache am besten kalt aufgetischt wird. Wenn ich sehe, wie blinzelnde, zittrige achtzigjährige Nazi-Kriegsverbrecher in Handschellen abgeführt werden, denke ich unwillkürlich: Warum nicht damals? Jetzt ist es zu spät. Ich wünschte, sie könnten in der Zeit zurückversetzt und von damaligen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden. Letzte Woche erst brachte das Fernsehen Bilder eines zitternden Pol Pot in Handschellen: Auch hier wieder das Gefühl, leider viel zu spät. Schuld und Verantwortung können zweifellos nur warm aufgetischt werden. Alte Vergehen, Vorwürfe und offene Rechnungen gerinnen und erstarren und führen zu übelsten Verdauungsstörungen. Natürlich gab es Leute, die mich vielleicht vor mir selbst hätten retten können. Ich könnte gewiß rückblickend an irgendeinem Punkt in der Ereigniskette von Chesham Prep zum Gefängnis einhaken und sagen: » Er hat versagt, sie hat versagt, die haben sich keine Mühe gegeben«, nur was hätte ich heute davon? Ein reines Gewissen? Ich glaube nicht. »Dürfte

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