01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
Matthew.
Ich erinnere mich noch an den drängenden Wunsch, mit ihm ins Kino zu gehen und ihm die Filme zu zeigen, aber während ich mit zurückgeknicktem Kopf in der ersten Reihe saß und einen Film nach dem anderen sah, versank ich gänzlich in der Welt auf der Leinwand und vergaß alles um mich herum.
Als wir mit immer noch blinzelnden Augen und dem leisen Dämmern unserer Wahnsinnstat nach Uppingham zurückkehrten, war alles zu spät. In meinem Fall war der Bogen endgültig überspannt und unser Ausflug der unwiderrufliche Anlaß für meinen sofortigen Schulverweis, ohne daß ich mich noch von einem einzigen Mitschüler verabschieden durfte.
Jo wurde bis zum Ende des Semesters vom Unterricht suspendiert.
Nie werde ich den einzigen Satz vergessen, den mein Vater im Wagen zu mir sagte, als er seinen mißratenen, undankbaren, monströsen zweiten Sohn nach Hause kutschierte.
»Wir reden später über diese traurige Geschichte.«
Natürlich wurde später über diese traurige Geschichte geredet. Worauf wir komischerweise jedoch nie zu sprechen kamen, waren die Filme. Für meinen Vater, wie ich sehr gut nachvollziehen kann, bedeutete mein Verhalten Ungehorsam, Rebellion, Unangepaßtheit, Geltungssucht und vieles mehr. Er sah meinen selbstzerstörerischen Drang, aber er wollte sich nicht weiter mit der Waffe, die ich dazu auserkoren hatte, auseinandersetzen. Ich kann dies sehr wohl verstehen und ihm nachsehen, aber es ist dennoch seltsam, daß wir nie über die Filme sprachen.
In gewisser Weise besaß jeder der drei Filme etwas, das mich unmittelbar ansprach.
In Cabaret ging es um Homosexualität, sowohl in der Formgöttlicher Dekadenz als auch in Form schuldbewußter, unterdrückter englischer Scham; und nicht zuletzt auch um schuldbewußte, unterdrückte jüdische Scham; es ging um die Spannungen und die Liebe zwischen einem verstockten Engländer, der unfähig war, laut aufzuschreien oder aus sich herauszugehen, und der verträumten, romantischen Sally Bowles, beide in ihrer Art zum Scheitern verurteilt und die gleichen Qualen erleidend und beide je eine Hälfte von mir darstellend.
In Uhrwerk Orange ging es um einen bösartigen, unberechenbaren, rebellischen, unerträglichen und asozialen Jugendlichen, der eine wilde Leidenschaft für Beethoven empfindet (sogar Rossini hatte einen kurzen Auftritt), und um die Anstrengungen der Gesellschaft, ihn zu brechen und unschädlich zu machen, ihm neben den Teufeln auch die Engel auszutreiben und ihn davon abzuhalten, er selbst zu sein.
In Der Pate schließlich ging es ... Herrgott, was soll der Quatsch, im Paten geht es um alles.
Ich glaube, Woody Allen hat einmal gesagt, alle Literatur sei bloß eine Fußnote zu Faust. Vielleicht ließe sich über die Adoleszenz sagen, sie sei ein Gespräch zwischen Faust und Christus. Wir erschauern bei dem Gedanken, alles das, was echt, einzigartig, aufbegehrend, trotzig und unbeschädigt an uns ist, gegen die Verheißungen von Ruhm, Anerkennung, Erfolg und das goldene Los gesellschaftlicher Eingliederung und Bestätigung einzutauschen; doch unsere große kreative Vorstellungskraft zeigt uns auch die andere Seite dieses Opfers: die Schmerzen und Schrecken, die wir anderen von den Schultern nehmen werden; die Teilhabe am Leben und Fühlen unserer Mitmenschen; die Bereitschaft, im Namen von Wahrheit und Liebe zurückgestoßen und verachtet zu werden, und der wütende Protest gegen die Heuchelei, den Trug und die faulen Kompromisse einer Welt, deren Falschheit wir so deutlich erkennen.
Kein Denken könnte je so selbstgerecht und so wahr sein wie das eines Jugendlichen.
Wegkommen
1.
Als Ersatz für Uppingham schickten mich meine Eltern auf die Paston School in North Walsham, einem kleinen Marktflecken in Norfolk. Paston war eine staatlich anerkannte Grammar School (das Eleven-Plus-Examen war also doch nicht ganz umsonst gewesen), deren ganzer Ruhm sich darauf gründete, Horatio Nelson, der hier nur der »Held von Norfolk« genannt wurde, zu den Ehemaligen zählen zu dürfen.
Da ich im November 1972 in Uppingham geflogen war (offiziell hieß es »um die Auflösung des Schulverhältnisses gebeten hatte«), mußte ich zum Frühjahr 1973 in Paston anfangen. Die Schule war es nicht gewohnt, einen Fünfzehnjährigen in der Sixth Form zu haben, und schlug deshalb vor, ich solle zum Sommer 1974 meine sämtlichen O-Levels wiederholen, erst danach könne man vernünftigerweise an die A-Level-Prüfungen denken.
Ich fiel aus allen Wolken.
Weitere Kostenlose Bücher