01 Das Haus in der Rothschildallee
neues Kleid«, sagte er.
»Mein Kleid hat mir die Bachmaier vor zwei Jahren für das Sommerfest im Palmengarten genäht. Aber meine Frisur ist neu. Seit Donnerstag. Macht nichts. Du brauchst dich nicht zu schämen. Heute haben wir ja erst Sonntag.«
Er schaute Betsys Lockenkopf mit der zitronengelben Seidenschleife am Hinterkopf verlegen an, schalt sich einen verkalkten Trottel, fing sich jedoch sofort wieder, beugte sich zu ihr hinüber und küsste ihre Hand – mit geschlossenen Augen.
»Kommt ein Adler geflogen«, summte er nach der Melodie des alten Kinderlieds.
»Um Gottes willen, Johann, ist dir nicht gut?«, fragte Betsy. Sie sprang auf und fühlte seine Stirn.
Er war ziemlich sicher, dass die weißen Knöchelstiefel mit den vielen Knöpfen ebenfalls neu waren, wollte sich jedoch nicht erneut blamieren und lächelte nur. »Kannst dich ruhig wieder hinsetzen. Wahrscheinlich habe ich einen Sonnenstich«, sagte er. »Das wird künftig zum Glück nicht mehr passieren. Der Adler hat ja ein Dach.«
»Siehst du. Ich sag doch immer, dass du es nicht verträgst, so lange in der Sonne zu sitzen.«
»Ach Betsy, ich liebe dich. Auch wenn du deine Haare hinter meinem Rücken abschneiden lässt und so begriffsstutzig geworden bist, dass es einen Hund jammert. Erwin hätte längst verstanden. Von Otto gar nicht erst zu reden. Seit zehn Minuten versuch ich dir zu erzählen, dass ich mir ein Auto gekauft habe. Einen Adler.«
»Hab ich noch nie von gehört. Ist das was sehr Teueres?«
»Was sehr Gutes. Und Gediegenes. Keiner wird mit dem Finger auf uns zeigen und uns als Protz beschimpfen. Und ich werde auch nicht bankrott gehen. Du kannst dir also so viele Stiefel kaufen, wie du willst.«
»Hast du sie also doch bemerkt. Es gibt hier hochelegante Schuhgeschäfte. Da kann sich Frankfurt eine Scheibe abschneiden. Clara braucht auch neue Schuhe. Sie hat sich in welche verliebt, die Mary Jane heißen, genau wie das Mädchen in ihrem Englischbuch. Das fängt heute ganz früh bei den jungen Mädchen an, dass sie sich für Mode interessieren.«
»Meine Tochter nicht. Clara ist doch noch ein Kind. Und wozu braucht ein Kind moderne Schuhe? Sie kann doch deine alten auftragen. Jedenfalls eines Tages, wenn sie hineingewachsen ist. Wenn sie mit uns im Auto sitzt, sieht ja ohnehin niemand ihre Füße. Außerdem soll nur einer wagen, nach den Beinen meiner Tochter zu schielen.«
Es roch nach Zimt und Vanille und, wenn der Wind den Duft herüberwehte, nach frisch gemähtem Gras. Das war das Angenehme an Baden-Baden. Es war nach den Tagen von Glanz und Gloria und den schäumenden Illusionen von Reichtum und gesellschaftlichen Ehren wieder zu seinen beschaulichen Anfängen zurückgekehrt. Der liebenswürdige Ort war kein Dorf, dennoch eine Idylle, auf eine selbstverständliche Art vornehm und nicht großspurig. Ein Mann wie Johann Isidor Sternberg, der nicht mit einem goldenen Löffel in der Hand auf die Welt gekommen war und der nun durch eigene Arbeit oben stand, fühlte sich wohl in Baden-Baden. Wenn er auf einer Bank im Kurpark saß und die Früchte seiner Arbeit genoss, fragte ihn keiner nach Stand und Konfession. Er durfte wie ein Jüngling träumen und wie ein Alter Rückschau halten. Seine Träume eilten dem Tag voraus. Zu Hause würden die Nachbarn den Hut ziehen, wenn er sonntags in seinen grünen Adler stieg, um seine Frau und seine wohlgeratenen Kinder in den Taunus und an den Rhein zu chauffieren.
»Wo willst du lieber hin, Betsy«, fragte er, »ins Café Blum nach Wiesbaden oder ins Kreiner nach Königstein?«
»Wiesbaden ist eleganter«, sagte Betsy, »aber der Kuchen ist besser im Kreiner.«
»Da haben wir den Salat. Wir werden von jetzt ab immer zwischen zwei Stühlen sitzen. Mein Vater hatte recht. Besitz bringt Sorgen, hat er immer gesagt.«
»Deine Sorgen möcht’ ich haben. Und dem Rothschild sein Geld.«
»Meine Sorgen sind auch deine. Das hat der liebe Gott so eingerichtet bei Eheleuten. Und dem Rothschild sein Geld möchte ich gar nicht haben. Ich würde total durcheinanderkommen. Ich hab ja noch nicht einmal genug Söhne, die ich in die Welt schicken kann.«
Johann Isidor war es nicht gewohnt, in der Öffentlichkeit zu lachen. Ihm war es, als hätte er die Stille zerrissen und die Menschen gestört, die ihre Ruhe genießen wollten. Er schaute sich befangen um und atmete tief ein. Die Luft war schwer und drückend, doch sein Kopf war leicht, und das Herz blieb froh. Vielleicht war es nicht die
Weitere Kostenlose Bücher