01 Das Haus in der Rothschildallee
Einbildung der Nacht, am Ende war er in den letzten Tagen wirklich jünger geworden. Es war gut, unter einem freundlichen Himmel die Segnungen zu zählen, die der Herr ihm beschieden hatte. Ein Mann musste Gott für seine Wohltaten danken, solange er noch in vollem Saft stand.
»Unsere Kinder«, hörte er sich sagen, »werden höchstwahrscheinlich nicht mehr wissen, wie es ist, auf ein Ziel hinzuarbeiten und sich zu freuen, wenn man es erreicht hat. Ihr Vater ist immer noch in dem Stadium. Manchmal denke ich, ich müsste ihnen beizeiten Demut beibringen, aber ich weiß nicht wie.«
»Und ich bekomme einen Kopf wie einen Luftballon, wenn du Dinge sagst, die ich nicht verstehe.«
»Das Salz der Ehe besteht ja darin, dass ein Mann Dinge sagt, die seine Frau nicht versteht.«
»Da! Das habe ich schon wieder nicht verstanden.«
»Lass dir keine grauen Haare wachsen, Betsy. Wir können ja nicht alle klug sein. Komisch, was ist heute mit unserem Kurorchester passiert? Die haben doch tatsächlich vergessen, Schuberts ›Unvollendete‹ zu spielen.«
»Haben sie nicht. So was würden die nie tun. Du hast gerade geschlafen, als es so weit war. Bestimmt hast du auch nicht ›Die schöne Müllerin‹ gehört.«
»Heute Nachmittag passe ich besser auf. Versprochen. Heilig Ehrenwort, würde Erwin sagen. Obwohl er bisher noch keine Ehre hat. Wenn er und Clara wieder zu spät zu Tisch kommen, werden sie mich kennenlernen.«
»Da sind sie ja schon. Stehen ganz artig da vorn und warten. Erwin hat sich sogar gekämmt.«
»Sag nichts vom Auto. Das soll eine Überraschung werden, wenn wir heimkommen.«
Das Sonntagsessen wurde des schönen Wetters wegen ausnahmsweise auf der Terrasse eingenommen. Es war ein Bild, wie es die französischen Impressionisten, die ja nun auch in Deutschland Furore machten, hätten malen können – voller Licht und Sonne und beschwingt vom Pulsschlag des Lebens, der trunken macht. Das noch junge Weinlaub kroch die ockergelben Hausmauern hoch. Der Herbst war noch weit, der Winter Äonen entfernt. Wenn der Strahl des kleinen Springbrunnens herabfiel und die Hängegeranien auf den Balustraden und die Fuchsien im Halbschatten benetzte, verwandelten sie sich in leuchtende Boten des Sommers. Zwei Spatzen badeten im Brunnen. Eine Katze auf einer niedrigen Mauer gab vor, sie hätte nie etwas von den Freuden der Jagd erfahren, und knabberte an ihren Tatzen. Es war angenehm kühl im Innenhof. Erwin, der noch nicht witterte, dass die Sprache der Farben dereinst die seine werden würde, wurde im kurzen Moment des Glücks gewahr, dass Schönheit blendet.
»Ach«, sagte er leise.
Auf einem weiß eingedeckten Tisch in der Mitte standen gefüllte Sektkelche und dicke Gläser mit tiefrotem Himbeersaft für die Kinder, daneben eine lindgrüne Kristallvase, verziert mit schnäbelnden weißen Tauben und gefüllt mit Teerosen, die sich zu weit ins Leben gewagt hatten. Jeder Gast, selbst die Kinder, wurde persönlich vom Hotelbesitzer begrüßt und von den jungen Serviererinnen an die Tische geleitet.
»Gesegnete Mahlzeit«, wünschte der Patron.
»Der Himmel hat endlich meine Gebete erhört«, flüsterte Betsy in Johann Isidors Ohr.
Mit Victoria an der großen Tafel zu sitzen machte für die Mutter jede Mahlzeit zu einem Unternehmen, das ihren Puls beschleunigte und ihren Appetit meuchelte. Victorias Tischmanieren standen in keinem Verhältnis zu ihrem enormen Mitteilungsbedürfnis. Baden-Badens feine Küche mit dem raffinierten französischen Einschlag animierte sie höchstens zum Innehalten, wenn die Vorspeisen mit frischen Kirschen oder kunstvoll geschnitzten Radieschen dekoriert waren. Trotz Tante Jettchens rührenden Bemühungen, in prekären Situationen in das Geschehen einzugreifen und bei aufkommender Langeweile ihren vergötterten Liebling zu unterhalten, fiel es der Sechsjährigen schwer, zwei Stunden gesittet bei Tisch zu sitzen. Entweder formte sie aus ihrem Brot Gebilde, die wie dickbäuchige Trolle aussahen und die sie entweder mit Soße oder mit Rotwein einfärbte, oder sie umkränzte ihren Platz mit dem Immergrün und den Veilchen, die sie aus der kostbaren Vase von der Vitrine holte. Häufig sorgte Victoria auch für Tafelmusik, indem sie sämtliche französischen Kinderlieder sang, die sie zu Hause von Mademoiselle Lucile gelernt hatte. Die meisten Gäste hatten bereits erwachsene Enkel und nicht mehr den Hauch einer Erinnerung, was in Kindern vorgeht. Fast alle waren sie jedoch noch beweglich
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