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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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genug, um den Kopf indigniert in Richtung Victoria zu schütteln. »Das«, hatte die temperamentvolle Missetäterin schon am dritten Tag des Baden-Badener Aufenthalts diagnostiziert, »sind alles Frauenwölfe, die das arme Rotkäppchen fressen wollen.«
    »Ein leichtes Sommeressen«, kündigte der Hotelbesitzer an, »das unserem Chefkoch eine besondere Freude gemacht hat.« Er wedelte mit der Karte des Tages und küsste mit einer flinken Drehung seines Körpers die Hand einer überraschend jungen Nachzüglerin. Sie erinnerte an Carmen. Um ihre leicht entblößten, schwanenweißen Schultern hatte sie ein schwarzes Spitzentuch drapiert. Eine rote Nelke leuchtete in ihrem schwarzen Haar. Der Maître nannte sie Comtesse. »Wir wollen«, suggerierte er den übrigen Gästen, »uns doch unseren Appetit für das Diner heute Abend nicht verderben.«
    Die Damen nickten, ihre silbernen Locken bebten, die rotgesichtigen Herren stöhnten leise. Die junge Französin hielt ihr Glas in die Höhe. Sie lächelte einen Turm aus winzigen Brötchen an, als der Saalkellner ihr rosafarbenen Sekt kredenzte.
    Aus der Buche im Innenhof zwitscherte ein Vogel. »Die Amsel in ihrem schwarzen Kleid singt vom frühen Witwenleid«, rezitierte Victoria.
    »Charmante«, rief die französische Schönheit aus. Sie rieb ihre zierlichen Hände aneinander.
    »Das hab ich von Josepha gelernt«, erzählte Victoria. Schmeicheleien von Fremden war sie nicht gewohnt. Trotzdem stand sie auf und knickste.
    »Charmante, charmante«, steigerte ihre Bewunderin den Beifall, »wie eine kleine Prinzess.«
    Es war Victorias Glückstag. Sie vergaß ihn nie. Großtante Jettchen hatte die zwei Stunden, die sie am Morgen allein mit ihrem »Herzchen« verbracht hatte, ausschließlich dazu genutzt, ihre eigene Kindheit zurückzurufen. Victoria trug eine voluminöse Schleife aus himmelblauem Satin in ihrem kastanienbraunen Haar. Am Vortag hatten die Schleife und die kleine goldene Biene mit Flügeln aus Strass, die im Knoten steckte, noch Jettchens wogenden Busen geziert. Das ausgefallene Arrangement sah auf dem kleinen Kinderkopf wie ein Propeller aus und Victoria so, als würde sie jeden Moment losfliegen. Nicht nur das: Von ihrem mageren Hals baumelte eine schwere Kette aus auffallend großen Korallenkugeln, zwischen denen goldfarbene Perlen und Diamantbaguettes leuchteten. Auch die Schließe, von Jettchen nach vorn gezogen, war mit Diamanten besetzt. Das wertvolle Schmuckstück stammte vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts und gehörte zum Nachlass ihrer Schwester.
    »Schwesterlein sieht aus wie ein Pfingstochse«, tuschelte Clara ins brüderliche Ohr.
    »Nein, wie der Oberbürgermeister von Liliput«, wisperte Erwin zurück. »Gleich geht Herzchen mit ihrem Messerchen auf uns los.«
    »Taisez-vous«, befahl Frau Betsy. Sie trat Erwin unter dem Tisch und drohte auch Clara mit Blicken. Die Sitte, Französisch zu sprechen, um Kinderohren Wahrheit und Wirklichkeit vorzuenthalten, stammte noch aus ihrem Elternhaus. Als ihre Erinnerungen den Apfelbaum in Pforzheim und die ausgebreiteten Arme des Vaters erreichten, lächelte sie. Ihr Mann sah es und zwinkerte ihr zu. Er hatte das Bedürfnis, seine Frau wissen zu lassen, dass auch er soeben an die vergangene Nacht gedacht hatte.
    Victoria tauchte ihre Zunge tief ins Glas. Auf dem Tischtuch aus weißem Damast entstand eine kleine Pfütze Himbeersaft, die sich rasch zu einem großen Fleck ausbreitete.
    »Mademoiselle Cochon«, protzte Erwin mit seinen Kenntnissen.
    »Was heißt das?«, wollte Victoria wissen.
    In ihrem Rüschenkleid aus zitronengelbem Voile, mit dem Haarschmuck und der Korallenkette wirkte sie wie eines jener Modepüppchen im französischen Empire, die für Kinderhände verboten waren. Sie wurden den Damen von ihren Couturiers ins Haus geschickt, damit die sich eine Vorstellung von den Modekreationen machen konnten, die sie künftig tragen würden. »Tante Jettchen hat gesagt, sie hat die Kette auch in die Schule anziehen dürfen«, beugte Victoria künftigen Diskussionen vor. »Jeden Tag hat sie gedurft. Ihre Mutter war ein Engel.«
    »Auch in den Ferien hat sie gedurft«, feixte Erwin, »und im Kohlenkeller, wenn sie unartig war, hat sie auch gedurft. Jeden Tag. Deine Mutter ist kein Engel.«
    »Ach du«, sagte Victoria freundlich, »du willst mich nur ärgern. Kohlenkeller gibt es ja nicht. Hat Tante Jettchen gesagt. Jedenfalls«, schränkte sie ein, als ihr die Kachelöfen in der Rothschildallee, die Eimer

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