01 Das Haus in der Rothschildallee
nicht umbenennen müssen«, sagte Johann Isidor. Es missbehagte ihm, dass seine Frau, die allgemein als bescheiden gerühmt wurde, mit zweiundvierzig und als Mutter von vier Kindern immer noch den Hang hatte, dann und wann nach den Sternen zu greifen.
»Der ist noch nicht reich, der nicht zufrieden ist«, zitierte er aus dem Sprichwortschatz seiner Mutter.
Er selbst war mit dem Quartier – mitten in der Stadt und doch mit Blick auf den herrlichen Park – mehr als zufrieden. Auch Otto, der durchaus in Frankfurt hatte bleiben wollen, fand in den ersten zehn Tagen in Baden-Baden keinen Grund zur Klage und alles »famos« und »fabelhaft«, obwohl die Eltern ihn immer noch so behandelten wie seine sechsjährige Schwester: Für gute Führung war dem achtzehnjährigen Gymnasiasten, den noch nicht einmal ein Jahr vom Zeugnis der Reife trennte, eine Belohnung in Aussicht gestellt worden. Wenn Otto die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte, sollte er den zweiten Teil der Sommerferien bei einem verwitweten Onkel seiner Mutter verbringen. Der wohnte in Paris, hatte vier erwachsene Söhne und eine bildschöne Tochter in Ottos Alter. Otto kannte Tochter Toni von Fotos, deren Vater hatte er von seinen Besuchen in Frankfurt als äußerst großzügig und angenehm liberal in Erinnerung. Vor allem hatte er schon vor zwei Jahren seinem Großneffen das »wahre Leben« avisiert. Obwohl die Eltern Sternberg dem Pariser Zweig der Familie nie ganz getraut hatten, waren sie guter Hoffnung, ihr Ältester würde durch den Besuch beim Onkel seine blamabel schwachen Französischkenntnisse aufbessern, schließlich waren sein Abitur und somit der Ruf der ganzen Familie in Gefahr.
Wider Erwarten interessierte sich Otto sehr viel mehr für Baden-Baden als für Paris. Weil der Empfangsportier ein Herz für grazile schwarzhaarige Jünglinge hatte, war dem Primaner eines der schönsten Einzelzimmer im Haus zugeteilt worden. Es wurde von einem ausnehmend hübschen Zimmermädchen versorgt, das sich besonders gut auf Gäste verstand, die noch keine Gebrechen hatten, für die sie Heilung in Baden-Badens Quellen suchten. Schüchternen jungen Burschen, die ihr Portemonnaie und eine teure Krawattenperle unter der Leibwäsche versteckten, war sie besonders gefällig.
Nur Johann Isidor machte eine Badekur. Doktor Meyerbeers Diagnose war von einem Baden-Badener Kurarzt mit Professorentitel, Monokel, Zigarre und der Gepflogenheit, nach jeder Konsultation abzurechnen, bestätigt worden. »Der endgültige Erfolg«, schränkte er jedoch ein, womit er allen Zweifeln und Ansprüchen seiner Patienten vorzubeugen beliebte, »wird sich allerdings erst bemerkbar machen, wenn Sie wieder zu Hause sind.«
»Das ist praktisch«, resümierte Johann Isidor, »jedenfalls für die Ärzte.« Er empfand die Kur, die er zum Teil in den Badekabinen des Hotels und zweimal in der Woche im beeindruckenden Friedrichsbad absolvierte, anstrengend und als eine Zumutung für Menschen, die es nicht schätzten, wenn sie wie widerspenstige Schuljungen behandelt wurden. An besonders kräftezehrenden Tagen konnte sich der tatkräftige Handelsmann Sternberg, dem in der Heimat von Freund und Feind die rasche Entschlusskraft der Tüchtigen attestiert wurde, nicht entscheiden, wie er sich überhaupt fühlte. War er ein schutzbedürftiger Schwächling, oder hatten ihn die Herren Doktoren zu einem alten Mann deklariert? Allzu oft registrierte er neue Ermüdungserscheinungen. Und war es vielleicht doch ein Hinweis auf seine vierundfünfzig Jahre, dass er sich an den Badetagen bereits vor dem Mittagsmahl nur mit Mühe wachhalten konnte und beim Einschlafen an Menschen dachte, die schon längst verstorben waren?
Die Schwebezustände zwischen Traum und Wirklichkeit kränkten ihn am meisten. Wenn ihm die Umrisse des Lebens entglitten waren, kam er sich bei der Rückkehr aus der vernebelten Welt wie die alten Herren mit Panamahüten vor, die mit ausgestreckten Beinen, eine verglühte Zigarre in der Hand, um den Musikpavillon saßen und wie auf Kommando alle gemeinsam einschliefen, sobald das Kurorchester zu spielen begann. War Johann Isidor indes gut gelaunt, was er eher den badischen Weinen am Abend als den Baden-Badener Quellen bei Tag zu verdanken hatte, registrierte er eine Virilität, die ihn belebte und die er nicht mehr erwartet hatte. Die Nacht, die hinter ihm lag, war wahrhaftig keine gewöhnliche gewesen. Er überlegte, ob Betsy wohl deshalb anders aussah als sonst. »Mir gefällt dein
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