01 Das Haus in der Rothschildallee
Lebensunterhalt zu arbeiten. Ein gutmütiger Malermeister, der wenig redete, aber auch nicht viel fragte und schon gar nicht, wer der Vater ihres Kindes war, wollte sie heiraten; er wiederholte sein Angebot häufig, doch es drängte sie nicht zur Ehe. Fritzi ängstigte die Vorstellung, Annas spendabler Vater könnte in einem solchen Fall die Lust verlieren, seine Tochter weiterhin so gut zu versorgen wie seine ehelich geborenen Kinder.
Die kleine Anna war ein fügsames, höfliches und nachdenkliches Mädchen, ebenso hübsch wie ihre Halbschwester in der Rothschildallee und, genau wie sie, früh gereift, nur nicht so vorlaut und zungenflink. Bei seinen Besuchen entdeckte ihr Vater, ohne dass er ihre Mutter darauf hinwies, bei der Kleinen Victorias dunkle Augen und in ihnen den gleichen Ausdruck von Melancholie, Ottos scharf geschnittene Nase und seinen eigenen dunklen Teint. Annas Ähnlichkeit mit den Kindern, die ihm Betsy geboren hatte, war offensichtlich und für Johann Isidor, obwohl er sich lange wehrte, sich dies einzugestehen, auch bewegend.
Anders als die vielen Männer, die dem kurzen Abenteuer, der Leidenschaft des Moments nicht widerstehen können, zweifelte er nie an seiner Vaterschaft. Als Babys sahen sich Victoria und Anna frappierend ähnlich. Alle zwei hatten sie Locken und Grübchen, sie zahnten zur gleichen Zeit und sprachen beide mit zehn Monaten ihr erstes Wort. Später stolperte Annas Zunge, genau wie einst die der kleinen Clara, über das Wort »Kirsche«. Ihren Vater nannte sie »Onkel Johann«. Sie knickste, wenn er kam, und sie knickste, wenn er ging, beantwortete jede Frage, die er an sie richtete, redete allerdings nie mit ihm, wenn sie nicht musste. Selbstverständlich kannte sie seinen Nachnamen nicht.
Der liebevolle »Onkel« verwöhnte seine heimliche Tochter mit Geschenken, die ihre Mutter ihr nie hätte kaufen können, hätte sie einen Mann aus dem eigenen Stand geheiratet. Johann Isidor hatte selbst Freude an seiner Großzügigkeit. Er ließ Anna Obst und Süßigkeiten aus einem Geschäft im Oeder Weg schicken, aus einem Teil der Stadt also, in den seine Betsy nie kam. Ein Bote, der nicht imstande war, zwei zusammenhängende Sätze zu sprechen, überbrachte teure Kleider, gelegentlich gar welche aus Paris und Wien. Johann Isidor ließ sie in die Posamenterie anliefern. Seine ehemalige Verkäuferin hat es nie bereut, dass sie ihren Chef erhört hatte. Seinerseits war er Fritzi dankbar, dass sie ihrer Tochter ausschließlich von dem bedauernswerten Seemannsvater erzählte, den ihr ein Sturm entrissen hatte.
Die anstehenden Verhandlungen mit Fritzi bereiteten Johann Isidor enorme Sorgen; er stellte sich auf Bitten und Tränen ein, zweifelte an sich selbst, suchte Hilfe bei Doktor Meyerbeer und widersprach nur noch selten, wenn Betsy abends auf Baldriantee bestand. Zu seiner Verblüffung aber gab es keine von den Schwierigkeiten, die jeder Mann erwartet, wenn er einer Frau die endgültige Trennung vorschlägt. Auch blieben die Vorwürfe aus, von denen er fand, ein Mann, der sich so betragen hatte wie er, hätte sie verdient. In Gedanken an ihren potenten, gutmütigen Malermeister, zu dem sie sich seit der Silvesterfeier im Karnevalsclub noch sehr viel mehr hingezogen fühlte denn zuvor, sagte Fritzi Haferkorn gewinnend schlicht: »Es kommt darauf an, was Sie mir bieten.«
Der Vater ihres Kindes hatte sie soeben gefragt, ob es ihr recht wäre, wenn er bei entsprechender Zahlung die Verbindung zu ihr und der kleinen Anna abbrechen würde. »Zumindest derzeit«, fügte der vorsichtige Taktiker hinzu. Bekümmert verwies er auf den Umstand, dass es ohnehin nahezu unmöglich geworden war, gute Kinderkleider, Obst und Süßigkeiten zu beschaffen, und zudem wäre es für ihn sehr schwierig geworden, in die Textorstraße zu kommen. »Man wird ja nicht jünger«, sagte er, als er den Schweiß von der Stirn rieb.
»Ist schon gut«, beruhigte ihn Fritzi, »sie hat genug Bananen gegessen. Und wenn sie aus ihren Kleidern hinauswächst, kann man ja den Saum herauslassen.«
Eine Stunde später stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab Johann Isidor Sternberg den Abschiedskuss. Sein Angebot hatte sie überwältigt. Der redliche Handelsmann hatte nicht nur eine Summe festgesetzt, die bis zum Ende von Annas Schulzeit reichen würde. Er hatte auch glaubhaft versichert, er wolle Fritzi gegen die von den Fachleuten bereits konstatierte Inflation absichern. Noch im Februar sollte ihr ein Grundstück
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