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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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der Zeit von Staatsschulden, Zwangsbewirtschaftung und Geldentwertung hatte er nicht mehr auf Gold gesetzt. Er vertraute allein dem Grundbesitz. »Noch unsere Kinder werden den Tag segnen, da wir die Rothschildallee gekauft haben«, sagte er, als Josepha die Terrine mit dem Silvesterpunsch in den Salon brachte.
    Die Kinder standen, wie in den Bilderbüchern der alten Zeit, um den Ohrensessel, in dem der orakelnde Vater saß und eine Zigarre rauchte. Jettchen saß im Schaukelstuhl und nickte Zustimmung. Auch ihr Mann hatte ihr ein schuldenfreies Haus hinterlassen: Es würde den Krieg überdauern. An Betsys Brust steckte ein Schmetterling mit Augen aus Smaragden – ein Geschenk aus Pforzheim, von ihrem Vater eigens für sie angefertigt. Victoria war überzeugt, dass sie nie mehr so glücklich sein würde wie am 31. Dezember 1915. Zum ersten Mal durfte sie das neue Jahr um Mitternacht begrüßen, nicht am Morgen des 1. Januar.
    »Ab heute«, sagte sie, »bin ich kein Kind mehr.«
    »Großer Irrtum, Freifrau von Sternberg«, korrigierte sie ihr Bruder, »der Lebertran ist schon ausgeschenkt.«
    Victoria deutete stumm und selbstsicher auf das Glas in ihrer Hand. Auch sie durfte Punsch trinken. Josepha, die Meisterin der Improvisation, hatte Tee aus einer Mischung von Brombeerblättern und Ebereschenblättern gebraut, ihn mit Sacharin gesüßt, mit Zimt und Nelken gewürzt und das Ganze mit einem Glas vom Arrak, der aus den Vorkriegsvorräten stammte und ausschließlich für Krankheitsfälle reserviert war, zu einem standesgemäßen Silvestertrunk gemacht.
    In der Schale lag Stutzweck, das in Frankfurt an Silvester traditionelle Hefegebäck mit den zwei Köpfen, die das alte und das neue Jahr symbolisieren. In den Bäckereien wurde Stutzweck nicht mehr angeboten, was als ein ganz schlechtes Omen galt. Es gab kein helles Mehl, nicht genug Fett und Zucker und zu wenig Kohle für die Backöfen. Josephas Stutzweck war aus einer Mischung von schwarzem Mehl, Kartoffeln, Haferflocken und einem Eiaustauschmittel, das soeben erst zum Verkauf gelangt war. Gesüßt hatte die findige Köchin mit Kunsthonig und zwei Löffel Rübenkraut. Ihre Augen wurden jugendschön, als die Hausfrau sie lobte. Selbst Erwin hatte, als er den ersten Bissen nahm, nicht das Herz, sein Gesicht zu verziehen.
    Um Mitternacht bestand der Hausherr darauf, dass Josepha mit ihm, Betsy und Tante Jettchen ein Glas Sekt trank. Es war Feist Feldgrau, die gleiche Marke, die er einst Fritzi Haferkorn überreicht hatte. Er erinnerte sich und konnte trotzdem lächeln.
    »Ich hab’s ganz fest im Gefühl«, sagte er und trank seiner Frau zu, als er von der Luther-Kirche den ersten Glockenschlag hörte, »1916 bringt die Wende.«

9
EIN TRAUM ZERBRICHT
    Frankfurt 1916/1917
    Anders als ihre sämtlichen Geschwister hatte die kleine Alice nicht die markante Nase ihres Vaters. Die Eltern werteten das niedliche Stupsnäschen ihrer Jüngsten als ein ermutigendes Zukunftsomen. Plauderten sie, ohne dass sie vor Zeugen ihre Ambitionen hätten rechtfertigen müssen, sprachen sie recht ungeniert von einem möglichen Wechsel in die Gesellschaftsklasse, die von jüdischen Männern die Vermögensverhältnisse der Rothschilds verlangte und von ihren Töchtern eine entsprechende Mitgift, ehe sie mit ihnen verkehrte.
    »Aber schwarzes Haar hat sie halt doch«, pflegte Betsy an dieser Stelle der Unterhaltung einzuwenden. Ihre Gewohnheit, zuallererst nach dem Haar in der Suppe zu suchen und sich dann mit der Zukunft zu beschäftigen, hatte sich im Krieg voll entwickelt.
    »Vielleicht«, tröstete sie ihr Mann, »werden schwarze Haare eines Tages modern. Dann lassen sich die Blonden umfärben und unsere Tochter heiratet den Prinzen von Hessen.«
    »Meinst du das im Ernst?«
    »Denk mal nach!«
    Trotz der miserablen Qualität der Kriegsseife glänzten Alicens Locken wie schwarzer Taft, und obwohl es selten Äpfel gab und schon lange keinen Zwieback mehr, hatte sie bereits vier Zähne. Alle waren wunderbar gerade gewachsen und so schneeweiß wie die Haut von Schneewittchen. Jettchen war überzeugt, es wäre wenigstens zum Teil der von ihr mit Liebe und Bedacht gewählte Name der englischen Prinzessin, der bei ihrer Nichte so Exzeptionelles zuwege gebracht hätte. Aus der berechtigten Furcht indes, ihren Liebling Victoria durch irgendwelche Lobpreisungen zu kränken, die nicht deren Person galten, hütete sich das diplomatische Tantchen, eine solche Vermutung auch nur anzudeuten.
    Der

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