01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
Küchentisch seinen Abschiedsbrief gefunden hatte), sondern um die kurze Berührung, die Hand auf ihrem Haar, Körperwärme, statt einer Wärmflasche, wenn sie abends in ihr Bett ging. Der Beruf und Toby ließen ihr nur wenig Zeit und Gelegenheit, auszugehen und neue Menschen kennenzulernen.
Bei dem Gedanken an Toby fiel ihr wieder der Stapel Rechnungen ein, der vor ihr auf dem Küchentisch lag. Sie stand auf und schenkte sich frischen Kaffee ein. Sonntag morgen, neun Uhr, und Toby war noch nicht wach - der gestrige Besuch bei ihren Eltern hatte ihn völlig erledigt. Die drei wilden Gören ihrer Schwester hatten ihm eingeheizt, bis er völlig überdreht gewesen war. Schreiend und strampelnd hatte sie ihn zum Auto getragen, in dem er dann wenige Minuten später mitten im Schrei eingeschlafen war.
Wieder starrte sie auf die Rechnungen, dann ging sie mit ihrer Kaffeetasse zur Hintertür und blieb dort stehen, den Blick in den Garten gerichtet. Tobys Plastikdreirad lag in einer Pfütze. Rob hatte jetzt seit drei Monaten keinen Unterhalt mehr geschickt, und sie wußte bald nicht mehr, woher sie das Geld für Tobys Hortgebühren nehmen sollte. Die Hypothek auf das Haus war hoch, und wenn sie Überstunden machte, mußte sie auch noch einen Babysitter für Toby bezahlen. Unter Robs letzter Telefonnummer gab es keinen Anschluß mehr, und als sie zu seiner Wohnung gefahren war, hatte sie gehört, er sei umgezogen und habe keine Nachsende-adresse hinterlassen. Der Autohändler, bei dem er als Vertreter gearbeitet hatte, hatte ihr das gleiche erzählt, er hatte gekündigt und war spurlos verschwunden.
Gemma spürte die Panik, die im Hintergrund ihres Bewußtseins lauerte und nur darauf wartete, sich auf sie zu stürzen. Sie war so stolz gewesen auf ihre Autonomie und hatte sich nicht eingestanden, wie wichtig Robs Unterstützung war, weil das nicht zu ihrem Selbstbild von der patenten alleinerziehenden Mutter paßte. Jetzt mußte sie dafür bezahlen. Sei realistisch, sagte sie sich, überleg dir, was du für Möglichkeiten hast. Das Haus zu verkaufen und eine preiswertere Unterbringung für Toby zu finden, war schließlich nicht das Ende der Welt. Dennoch drückte ihr der Gedanke des Scheiterns wie ein Stein auf die Brust.
Das durchdringende Surren des Küchentelefons riß sie aus ihren trüben Gedanken. Sie stellte die Kaffeetasse auf die Arbeitsplatte und griff rasch nach dem Hörer, weil sie nicht wollte, daß Toby erwachte. »Gemma? Ich kann verstehen, wenn Sie es unverschämt finden, daß ich schon wieder anrufe, aber ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht Lust haben, zwei Besuche mit mir zu machen.«
In seinem Ton lag ein Zaudern, das sie im Dienst niemals hörte. »Immer noch inoffiziell?« fragte sie.
»Hm. Bis morgen wenigstens. Aber den Obduktionsbefund habe ich inzwischen. Eine Überdosis Morphium.«
Gemma griff nach ihrer Tasse und trank einen Schluck lauwarmen Kaffee. Damit also hatte er wenigstens recht behalten, und sie hatte sich getäuscht, als sie geglaubt hatte, seine persönliche Betroffenheit habe sein Urteil getrübt.
»Ich weiß, Sie sind immer noch der Meinung, daß ich aus einer Mücke einen Elefanten mache«, sagte er, als sie beharrlich schwieg, und Gemma hörte den feinen Unterton der Belustigung in seiner Stimme.
»Wen wollen Sie denn besuchen?«
»Felicity Howarth, Jasmines Pflegerin, in Kew. Und Bruder Theo unten in Surrey. Es ist ein herrlicher Tag für einen Ausflug«, fügte er drängend hinzu.
»Mami!« Toby war auf nackten Füßen in die Küche gewandert und blieb jetzt, seine Bettdecke im Arm, mit schlafgerötetem Gesicht und zerzaustem Haar vor ihr stehen.
»Komm her, Schatz.« Gemma ging in die Knie und drückte ihn an sich.
»Wie bitte?« fragte Kincaid verdutzt.
Gemma lachte. »Ich habe mit Toby gesprochen. Er ist gerade hereingekommen.« Für Toby war dieser geplante Ausflug nicht das Richtige - sie würde ihre Mutter fragen müssen, ob sie sich um ihn kümmern konnte, und würde dann den ganzen Tag ein schlechtes Gewissen haben, weil sie ihn so sehr vernachlässigte.
»Gemma?«
»Ich muß erst noch Toby unterbringen.«
»Ich hole Sie ab. Welche Zeit?«
»Nein!« Kincaid war noch nie bei ihr gewesen, und jetzt, da sie seine Wohnung gesehen hatte, wollte sie ihn schon gar nicht kommen lassen. »Ich meine«, fügte sie hastig hinzu, da sie selbst hörte, wie brüsk ihr Ton geklungen hatte, »ich muß
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