01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
haben. Da muß ich dauernd niesen. Und womöglich würde mir der Bursche in meinen Blumenbeeten graben.« Ihm sträubte sich der Schnauzer vor Unwillen, »Aber man muß natürlich etwas tun.«
Kincaid seufzte. »Ich weiß. Ich werde mich darum kümmern. Gute Nacht, Major.«
»Mr. Kincaid!« Kincaid, der schon auf der Treppe zur Haustür war, blieb stehen. »Ich glaube, Ihr Nachhaken in dieser Sache ist eher schädlich als hilfreich. Manchmal ist es einfach besser, man weckt schlafende Hunde nicht.«
Kincaid wanderte ruhelos in seinem Wohnzimmer auf und ab. Es war noch früh, noch nicht einmal neun Uhr. Er war müde, aber wie aufgedreht, unfähig sich auf irgend etwas zu konzentrieren. Er zappte durch das komplette Fernsehprogramm und schaltete den Apparat schließlich mißmutig aus. Keines seiner Bänder, keine seiner CDs konnte ihn locken, ebensowenig die Bücher, die zu lesen er noch keine Zeit gefunden hatte.
Als er sich dabei ertappte, daß er die Fotografien an seiner Wand anstarrte, drehte er sich um und faßte ganz bewußt den braunen Karton auf seinem Couchtisch ins Auge. Die klassische Vermeidungshaltung, die Weigerung, eine unangenehme Aufgabe anzupacken. Oder, um ehrlicher zu sein, dachte er, die Angst davor, daß Jasmine ihm frisch und schmerzhaft lebendig aus den Seiten ihrer Tagebücher entgegentreten würde.
Er gestattete sich noch einen kleinen Aufschub - die Zeit, sich eine Tasse Kaffee zu machen. Dann ging er mit der Tasse wieder ins Wohnzimmer und machte es sich im Lichtschein der Stehlampe auf dem Sofa bequem. Er zog den Karton etwas näher zu sich heran und strich mit den Fingern über die blauen Papprücken der Schreibhefte. Eine feine Staubschicht blieb an ihnen haften.
Wenn er sich schon darauf einlassen mußte, dann wollte er mit der Lektüre wenigstens von vorn anfangen - in den früheren Heften würde die Jasmine, die er kannte, nicht so unmittelbar zu spüren sein; außerdem hatte er bereits einen flüchtigen Blick in das letzte Heft geworfen und nichts auf den ersten Blick Nützliches entdeckt. Er nahm das am stärksten verblichene Heft aus dem Karton und schlug es auf. Das Papier war spröde und vergilbt und roch ein wenig muffig. Kincaid unterdrückte ein Niesen.
Die Eintragungen begannen im Jahr neunzehnhunderteinundfünfzig. Die Handschrift der zehnjährigen Jasmine war sauber und gewissenhaft, die Aufzeichnungen waren so banal wie befangen: Theos Heldentaten (schon damals war das beschützerische Interesse an dem jüngeren Bruder offenkundig), Schulnoten, eine Tennisstunde, ein Ritt auf dem Pferd der Nachbarn.
Kincaid blätterte ein Heft durch, dann ein zweites und drittes. Mit den Jahren veränderte sich die kindliche Handschrift, entwickelte sich zu Jasmines charakteristischer, zierlicher Schreibweise. Manchmal lagen Wochen, Monate zwischen einzelnen Einträgen, und wenn sie auch unbefangener wurden, so verrieten sie doch nichts über die Seelenlage der Schreiberin. Er hatte mit der Lektüre des vierten Heftes angefangen, als ein Eintrag vom März sechsundfünfzig ihn aufmerksam machte. Er kehrte noch einmal zum Anfang zurück und las genauer.
»9. März
Theos zehnter Geburtstag. Die übliche Feier. Alles wie im letzten Jahr und in den Jahren davor. Wir drei in unseren guten Kleidern am Eßtisch, drückende Hitze, geschlossene Fensterläden, und keiner sagt ein Wort. Der Koch hat einen Kuchen gebacken. Was er sich eben unter einer Geburtstagstorte vorstellt. Scheußlich (er ist immer scheußlich), aber Vater saß nur mit einem Gesicht da, als stünde das Jüngste Gericht vor der Tür, und Theo kicherte nicht einmal. Ich hätte am liebsten laut geschrien.
Vater hat Theo ein Modellflugzeug zum Selberbasteln geschenkt, und Theo interessiert das natürlich nicht im geringsten. Bestimmt muß ich ihm am Ende helfen, das Ding zusammenzubauen. Man darf Vater schließlich nicht kränken. Ich habe einen Monat lang jeden Tag das Pferd dieser gräßlichen Mrs. Savarkar bewegt, um das Geld für den Tennisschläger zusammenzubringen, den ich Theo geschenkt habe. Ich meine, gegen das Pferd hatte ich ja gar nichts, aber Mrs. S. ist eine richtige Hexe. Immer kommandiert sie einen herum, bloß weil wir >arme Engländer sind.
Kann ich mich wirklich an die Nacht erinnern, in der Theo zur Welt kam, oder habe ich nur die Geschichten unserer Ayah so oft gehört, daß ich nicht mehr unterscheiden kann, was ich von ihr gehört habe und was ich aus
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