01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
eigener Erfahrung weiß? Ich erinnere mich an lautes Geschrei und an Rauch und den Geruch nach Feuer, aber ich glaube, das alles ist erst später passiert und hat sich nur in meinem Gedächtnis mit der Erinnerung an den Doktor, der an die Tür trommelt, und an die Schreie meiner Mutter vermischt.«
»22. Mai
Mr. Patel hat mich in der Schule wieder in den Arm gekniffen. Er geht dauernd im Gang auf und ab, und seine Kleider knistern wie welkes Laub, und die ganze Zeit schaut er uns beim Schreiben über die Schulter. Ich kann es immer spüren, wenn er von hinten kommt. Dann wird mir im Nacken ganz heiß.
Heute hat er mich am Oberarm gepackt und mir seine Finger ins Fleisch gebohrt und gedrückt, daß ich die Zähne zusammenbeißen mußte, um nicht zu schreien. Er sagte, ich hätte meine Aufgaben nicht ordentlich gemacht, aber das war nur ein Vorwand, um mich nach dem Unterricht dazubehalten, das wissen alle. Ich habe gehört, wie die anderen Mädchen hinter meinem Rücken gekichert haben.
>Jasmine<, sagte er, als alle weg waren, und zischte das >S< in meinem Namen, daß sich mir die Haare sträubten. »Erinnerst du dich noch an deine englische Mutter, Jasmine? Du brauchst jemanden, der dich führt, Jasmine.< Dann kam er um das Pult herum. Ich preßte mich an den Türpfosten und drückte meine Bücher ganz fest an meine Brust. >Du weißt doch, daß du nicht in die Sonne gehen solltest, nicht wahr? Sonst siehst du gleich aus wie eine Inderin.< Dabei hat er mich angelächelt. Er sah aus wie eine kahlköpfige Schildkröte mit seinem dünnen, sehnigen Hals und seinen Glotzaugen. Ich bin weggerannt, bevor er mich noch einmal anfassen konnte. Ich bin den ganzen Weg bis nach Hause gerannt, und zu Hause habe ich mich übergeben. Ich wollte, ich könnte ihn umbringen.
Bis ich heimkam waren die Fingerabdrücke auf meinem Arm ganz blau geworden. Ich zog eine langärmlige Bluse an, damit Vater und Theo sie nicht sehen konnten. Mit Vater darüber zu sprechen, hat sowieso keinen Sinn. Ich habe es einmal versucht. Er bekam nur diesen verschwommenen Gesichtsausdruck, als wünschte er, ganz woanders zu sein, und sagte, meine Phantasie ginge mit mir durch.
Ich weiß, warum Mr. Patel mich nach Mami gefragt hat. Sie glauben, daß ich ein Mischling bin, wegen meiner Haar- und Hautfarbe, und daß Mami in Wirklichkeit gar keine Engländerin war.
Ich erinnere mich an meine Mutter. Ich erinnere mich an den weichen Stoff ihrer Kleider und wie sie immer nach Rosen geduftet hat. Ich erinnere mich an die Puppen, die sie mir aus England schicken ließ, und die Geschichten, die wir uns über sie ausgedacht haben. >Du mußt eine richtige Engländerin werden, Jasmine«, hat sie immer gesagt, >damit du auch weißt, was sich gehört, wenn wir nach Hause reisen.< Das war das einzige, wovon sie immer gesprochen hat - von der Reise nach Hause. Sie muß hier schrecklich unglücklich gewesen sein. Kann es sein, daß jemand an Heimweh stirbt?«
»5. Juni
Theo, die kleine Ratte, hat Vater verraten, daß ich die Schule geschwänzt habe, während er verreist war. Vater setzte seine Unglücksmiene auf und sagte, ich wollte ihm nur das Leben schwer machen, und jetzt müßte er mit dem Direktor sprechen.«
»30. Juni
Gestern ist Vater gestorben. Der Arzt sagt, es war sein Herz. Er meinte, es hätte was mit den Fieberkrankheiten zu tun, an denen er leidet, seit er nach Indien kam.
Er saß beim Abendessen und las Zeitung. Plötzlich sagte er, ihm sei nicht gut, er wirkte irgendwie verwundert dabei, und dann fiel er über dem Tisch zusammen.
Ich kann es nicht glauben. Was soll aus Theo und mir werden?«
7
Gemma saß in Robs altem Frotteebademantel am Küchentisch. Es war seine Farbe, nicht ihre - das dunkle Weinrot gab ihrem Haar einen Stich ins Rötlichgelbe. Sie wußte, sie sollte ihn wegwerfen oder Oxfam vermachen, genau wie all die anderen Relikte ihrer Ehe, die noch überall im Haus herumflogen. Aber manchmal, wenn sie den rauhen Stoff des Bademantels an ihr Gesicht drückte, bildete sie sich ein, es hafte ihm noch Robs Geruch an.
»Dumme Gans«, sagte sie laut zu sich selbst. Was hatte Rob ihr denn hinterlassen, daß sie sich überhaupt an ihn erinnern wollte? Es überraschte sie, daß er ihr noch immer fehlte, rein körperlich. Es ging dabei nicht nur um Sex (obwohl der selten geworden war seit dem Tag vor zwei Jahren, als sie beim Heimkommen Robs Schränke leer und auf dem
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