01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
marschierte der Chor hinaus. Die anderen Gemeindemitglieder kamen auf ihrem Weg zum Portal an Kincaid vorüber, lächelten, warfen ihm neugierige Blicke zu. Regelmäßige Kirchgänger, dachte er, die sich fragen, wer, zum Teufel, ich bin. Als das Portal hinter dem letzten zufiel, stand Kincaid auf und ging zum Altar.
»Entschuldigen Sie.«
Der Chorleiter war gerade im Begriff, eine Tür zu öffnen, von der Kincaid vermutete, daß sie in die Sakristei führte. Erstaunt drehte er sich herum, auffallend anmutig in seinen Bewegungen für einen so massigen Menschen. »Ja?«
»Kann ich Sie einen Moment sprechen? Mein Name ist Duncan Kincaid.« Kincaid überlegte rasch. Er wollte vorläufig auf keinen Fall in amtlicher Eigenschaft auftreten, um sich nach einem Nachbarn zu erkundigen, er wollte lediglich für sich selbst Klarheit erlangen. Vielleicht waren seine Jeans, der Anorak und das vom Wind zerzauste Haar gar nicht von Nachteil.
Mit ausgestreckter Hand trat der Chorleiter auf Kincaid zu. »Ich bin Paul Grisham. Was kann ich für Sie tun?«
Kincaid hörte den vertrauten, weichen Singsang in seiner Stimme. »Sie kommen aus Wales«, stellte er fest,
Paul Grisham lachte. Seine Zähne waren groß und schief gewachsen, seine Nase war, wie Kincaid sah, gebrochen, vermutlich mehr als einmal.
»Richtig. Aus Llangynog.« Grisham neigte den Kopf zur Seite und musterte Kincaid. »Und Sie?«
»Ich bin ein Nachbar von Ihnen. Ich bin gleich auf der anderen Seite der Grenze in Nantwich aufgewachsen.«
»Ich dachte mir doch gleich, daß Sie sich nicht wie ein echter Londoner anhören.«
»Spielen Sie Rugby?« Kincaid berührte mit einem Finger seine eigene Nase.
»Ich habe gespielt, ja, als meine Knochen noch schneller wieder zusammengewachsen sind. Wrexham Union.«
Kincaid lehnte sich an die Altarschranke. Er spürte, daß Grisham darauf wartete, er möge zu seinem eigentlichen Anliegen kommen, und sagte: »Ich bin nur zufällig vorbeigekommen. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie hier einen Abendgottesdienst abhalten.« Er wies mit dem Kopf zum Chorgestühl hinter Grisham. »War das vielleicht Major Keith, den ich da gesehen habe?«
Grisham lächelte. »Sie kennen den Major? Er ist eine unserer Stützen, auch wenn man das kaum vermuten würde, so wie er sich gibt. Er versäumt keine Probe und ist immer pünkdich wie eine wandelnde Uhr.«
»Sie proben zweimal die Woche?«
»Sonntag und Donnerstag abend.«
»Er wohnt unten bei mir im Haus. Ich hatte keine Ahnung, daß er singt, aber ich habe mir schon manchmal Gedanken darüber gemacht, wohin er so regelmäßig verschwindet. Ich dachte immmer, er geht irgendwo zum Stammtisch.« Kincaid richtete sich auf, als Grisham sein Chorhemd hob und einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche zog. »Ich war nur verblüfft, ihn zu sehen.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, lasse ich Sie vorn hinaus, ehe ich absperre.«
»Natürlich.« Kincaid folgte ihm durch den Mittelgang. »Ich wollte Sie wirklich nicht so lange aufhalten.«
Als sie das Vestibül erreichten, blieb Grisham stehen und wandte sich Kincaid zu. Er schien zu zögern. Im dämmrigen Licht mußte Kincaid zu ihm hinaufsehen, um seinen Gesichtsausdruck erkennen zu können. Der Mann überragte ihn um Haupteslänge.
»Sie sagten eben, daß er bei Ihnen im Haus wohnt - der Major, meine ich.«
Kincaid nickte. »Ja, er ist seit drei Jahren, als ich meine Wohnung kaufte, mein Nachbar.«
»Und Sie kennen ihn gut?«
Mit einem Achselzucken antwortete Kincaid: »Das kann ich eigentlich nicht behaupten. Ich bezweifle, daß überhaupt jemand ihn gut kennt.« Jasmine fiel ihm ein mit ihren Bemerkungen über nachmittägliche Teestunden mit dem Major, und er mußte an die Rosenbüsche denken, die er und der Major zu ihrem Gedenken gepflanzt hatten. »Ich weiß nicht. Es gab vielleicht doch jemanden, der ihn gekannt hat. Unsere Nachbarin, aber sie ist letzte Woche gestorben.«
Grisham zog das schwere Portal mit einer Leichtigkeit auf, als wäre es aus Pappe. »Aha, das ist dann die Erklärung. Am letzten Donnerstag ist er nämlich früher gegangen. Er sagte, er fühle sich nicht wohl. Das war das erstemal, daß ich so etwas bei ihm erlebte, und ich habe mir ein wenig Sorgen um ihn gemacht. Er lebt ja schließlich ganz allein. Aber er ist kein Mensch, den man darauf ansprechen könnte.«
»Nein«, stimmte Kincaid zu und trat in die
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