01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
die Achseln. »Die Hypothekenzahlungen sind hoch, auch wenn das Haus nur eine Bruchbude ist. Auch so eine geniale Idee von Rob, diese Bude zu kaufen - wenn ich das Haus jetzt verkaufen muß, verliere ich alles. Aber die größte Belastung sind die Kosten für Tobys Betreuung. Es geht ja nicht nur um den Hort, sondern die Babysitter abends und an den Wochenenden, wenn ich arbeiten muß.«
Vi trank einen Schluck Tee. »Könntest du etwas Günstigeres finden?«
Gemma schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Es ist schon bei dem jetzigen Preis nicht gut genug.«
»Gemma«, sagte Vi langsam, »du weißt, daß wir ihn jederzeit nehmen würden. Du brauchst es nur zu sagen.«
Sie sah ihrer Mutter in die Augen und senkte dann die Lider. »Nein, Mama, das kann ich nicht. Ich würde mich - ich kann einfach nicht.«
»Überleg es dir trotzdem noch einmal, Kind. Vielleicht nur als vorübergehende Notlösung.«
Es war ein verlockendes Angebot. Es wäre ein leichter Ausweg, aber er würde einen Verlust an Eigenständigkeit bedeuten, den sie nicht einmal in Betracht ziehen wollte. Sie holte Atem und sah ihre Mutter lächelnd an. »Ich werde es auf jeden Fall im Kopf behalten, Mama. Vielen Dank.«
Es begann zu dämmern, als Kincaid den Nordring um die Stadt erreichte. Die Rückfahrt aus Dorset war ihm endlos erschienen. Nachdem er stundenlang seinen ewig sich im Kreis drehenden Gedanken nachgehangen war, empfand er das lärmende Gewühl des Londoner Verkehrs als willkommene Ablenkung.
Er bog von der belebten Ringstraße ab und fuhr quer durch das relativ ruhige Golders Green nach North Hampstead. Als er die Kreuzung von North End Way und Heath Street erreichte, wandte er sich impulsiv nach links. Die Spaniard’s Road führte wie eine Brücke über die Höhe der sich langsam verdunkelnden Heide, isoliert und leer. Ein weißes Gesicht leuchtete im Licht seiner Scheinwerfer auf - ein einsam Wartender an einer Bushaltestelle -, dann war er auch schon auf dem Parkplatz des Spaniard’s Inn. Als er den Wagen abstellte, öffnete sich die Tür des alten Pubs, und eine Flut von Licht, Wärme und appetitlichen Düften ergoß sich in die Nacht. Ein paar Minuten später nahm Kincaid mit einem Teller mit Wurst, Pommes frites und Salat und einem Glas Bier beladen an einem Zweiertisch Platz. Er setzte sich mit dem Rücken zur Wand, so daß er den Blick durch den Gastraum schweifen lassen konnte, während er aß. Er fühlte sich immer in der Rolle des Beobachters wohler als in der des Beobachteten, und das lebhafte Treiben rundherum gestattete ihm, seine Gedanken auf Wanderschaft zu schicken.
Hatte der heutige Tag ihn seinem Ziel, die wahre Jasmine Dent zu entdecken, näher gebracht? Fragmenthafte Bilder schossen ihm irrlichternd durch den Kopf: Jasmines Gesicht vom Fenster des Häuschens in Briantspuddle umrahmt; Jasmine mit lose herabhängendem dunklem Haar, das ihr Gesicht verbarg, in der Kanzlei Rawlinson über die Schreibmaschine gebeugt; Jasmine, in den Kissen ihres Betts in Hampstead aufgerichtet, vergnügt lachend über irgendeine übertriebene Geschichte von ihm. Wenn er lange genug und tief genug grub, würden dann endlich all die kleinen Einzelteile ein zusammenhängendes Ganzes ergeben? Gab es so etwas wie eine klar abgegrenzte Persönlichkeit überhaupt? Konnte man je sagen, dies sei Jasmine gewesen, jenes aber nicht?
Er erkannte, daß die Melancholie und die innere Unruhe, die ihn seit seinem Aufbruch aus Dorset plagten, mit einem wachsenden Widerstreben zu tun hatten, Jasmines Tagebücher weiterzulesen. Alles, was er aus ihnen erfuhr, verstärkte das Bild einer ungemein verschlossenen, beinahe geheimnis-krämerischen Person, und das Gefühl unbefugten Eindringens belastete ihn immer schwerer.
Er merkte plötzlich, daß er geistesabwesend zwei junge Mädchen anstarrte, die am Tresen zu essen bestellten. Die eine hatte orangefarbenes Stoppelhaar, die andere glattes blondes Haar, das ihr weit über die Schultern herabfiel. Beide trugen enge Stretchminiröcke, die ihnen kaum über den Po reichten, und hatten trotz des kühlen Abends keine Strümpfe an. Wahrscheinlich, dachte er, lieferte ihnen die Eitelkeit innere Hitze genug; was ihm Sorgen machte, war sowieso nicht die Möglichkeit, daß sie sich eine Erkältung holten, sondern daß er keine Ahnung hatte, wie lange er sie angestarrt hatte, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Er wurde anscheinend alt.
Der Anblick des langen blonden
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