01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
Behandlung und ihre seelische Verfassung. Was dann folgt -« Gemma zuckte die Achseln, »kommt auf das Urteil des Coroners an.«
»Davon hat sie mir nichts gesagt«, meinte Martha bestürzt. »Aber nun ja, so ist es eben - sie wollte mich wahrscheinlich nicht beunruhigen.« Einen Moment lang sah sie Gemma schweigend an. »Eines«, sagte sie dann, »verstehe ich nicht. Wieso vergeuden Sie und Ihre Mitarbeiter soviel Zeit an einen simplen Selbstmord? Sie haben doch bestimmt Wichtigeres zu tun.«
»Hat Felicity es Ihnen denn nicht gesagt?«
»Was?«
»Es besteht die Möglichkeit, daß bei dem Selbstmord Beihilfe geleistet wurde, und das ist ein Verbrechen. Oder aber es war kein Selbstmord, sondern Mord.«
Kincaid hatte nichts hören lassen, als Gemma ins Yard zurückkam. Sie schüttelte den Kopf, als sie an seinen morgendlichen Anruf aus dem Auto dachte. Dorset? Oft genug hatte er sie der Unüberlegtheit beschuldigt, aber sie konnte sich nicht erinnern, je aus einer Laune heraus quer durch England gebraust zu sein.
Sein Interesse für Jasmine Dents Vergangenheit schien sich zur Besessenheit zu entwickeln, und das machte ihr Sorgen. Er hatte kein Wort mit ihr über Jasmines Tagebücher gesprochen, seit sie ihm geholfen hatte, die Hefte in seine Wohnung hinaufzutragen. Hatte er in Jasmines früherem Leben einen Hinweis gefunden, oder trieb ihn nur krankhafte Neugier, das Bemühen, ein junges Mädchen wieder auferstehen zu lassen, das er nicht gekannt hatte? Gemma erinnerte sich an das Foto, das sie in Jasmines Kommode gefunden hatte, und hätte auch jetzt noch nicht sagen können, was sie davon abgehalten hatte, es ihm zu zeigen. Hatte sie es um seinet-oder um ihretwillen vorenthalten?
Sie hatte sich in Kincaids leeres Büro gesetzt, und die Stille gab ihr keine Antwort.
Jetzt setzte sie sich mit einem Ruck in Kincaids Sessel auf und schüttelte die für sie ganz ungewöhnliche Stimmung ab. Wahrscheinlich war es die Nachwirkung des Currygerichts, das sie zu schnell hinuntergeschlungen hatte. Sie hatte selbst Probleme genug, ohne sich auch noch die seinen aufzuhalsen. Sie würde jetzt den Bericht über das Gespräch dieses Morgens schreiben, und wenn Kincaid sich nicht meldete, bevor sie damit fertig war, würde sie vielleicht ausnahmsweise früher verschwinden können.
Nachdem sie Toby in Hackney abgeholt hatte, fuhr Gemma Richtung Leyton. So eilig sie es gehabt hatte, aus dem Büro zu kommen, so wenig verlockend schien ihr plötzlich die Aussicht auf einen langen Abend zu Hause.
Die Leyton High Street hatte sich seit ihrer Kindheit kaum verändert. Vor den Schaufenstern in den roten Backsteinhäusern gab es einige Eisengitter mehr; wo früher der Chinese gewesen war, war jetzt ein Grieche, das biedere Textilgeschäft, das Gemma in Erinnerung hatte, hatte jetzt neonfarbene Glitzer-T-Shirts im Fenster liegen - aber im wesentlichen war der Charakter der Straße derselbe geblieben. Leyton, das früher einmal ein selbständiges kleines Dorf gewesen war, war vor langer Zeit schon von dem Moloch London verschlungen worden, und nur die High Street erinnerte noch an seine ehemalige Identität.
Ihre Eltern hatten die Bäckerei in der High Street schon vor ihrer Geburt gehabt. Sie war in der Wohnung über dem Laden aufgewachsen, mit den Düften von frischem Brot, süßen Kuchen und herzhaften Fleischpasteten. Nach der Schule hatte sie oft im Laden mitgeholfen, und sogar jetzt noch spürte sie die Enttäuschung ihres Vaters darüber, daß keine seiner beiden Töchter ein Interesse daran hatte, das Geschäft einmal weiterzuführen.
Sie stellte ihren Wagen auf dem öffentlichen Parkplatz ab und ging das Stück bis zum Laden mit Toby, der alle paar Schritte einen Känguruhsprung einlegte, zu Fuß. Der Nieselregen, der fast den ganzen Tag gefallen war, hatte aufgehört, und auch Gemmas bis dahin recht trübe Stimmung lichtete sich jetzt ein wenig. Ihre Mutter stand noch hinter der Theke, als sie das Geschäft betraten, und hatte alle Hände voll damit zu tun, die Kunden zu bedienen, die noch in letzter Minute vor Ladenschluß hereingeschneit waren.
»Gemma! Wie schön! Toby, Schätzchen, komm, gib Granny ein Bussi. So ist es lieb.« Vi Walters wischte sich mit einer Hand über die schweißfeuchte Stirn und sagte zu Gemma: »Kannst du mir hier ein bißchen helfen, Kind? Es ist furchtbar hektisch heute abend.«
»Natürlich, Mama.« Gemma fand es immer wieder komisch,
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