01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
verwundert als auch empört über einen solchen Mangel mütterlicher Zuwendung.
»Die arme Angela«, sagte Kincaid. »So ist das also. Kein Wunder, daß sie nach ein bißchen Freundlichkeit lechzt.«
»Er scheint nicht gerade ein angenehmer Typ zu sein. Ich habe mich bei ein paar Leuten im Versicherungsgeschäft umgehört. Er ist nicht sehr beliebt. Er hat anscheinend die Neigung, andere niederzumachen. Und es wird getuschelt, daß seine Geschäfte nicht ganz sauber sind - etwas Konkretes habe ich allerdings nicht erfahren.« Sie machte eine kleine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen, und Kincaid wartete geduldig. Er hatte gelernt, daß es das beste war, Gemma ihre Geschichten auf ihre Weise erzählen zu lassen. »Es heißt außerdem, daß er kokst. Halten Sie’s für möglich, daß Angela sich an Papas Vorräten vergriffen hat?«
»Kann schon sein«, antwortete Kincaid.
»Glauben Sie«, sprach Gemma etwas zögerlich weiter, »daß auch sexueller Mißbrauch vorliegen könnte?«
»Ich weiß nicht. Möglich ist es.« War es ganz gewiß in Anbetracht dessen, was er von der Beziehung zwischen Angela und ihrem Vater gesehen hatte. Und was, wenn Angela sich Sebastian anvertraut hatte? Das wäre eine plausible Erklärung für Sebastians heftige Abneigung gegen den Mann. Vielleicht hatte Sebastian Graham auch damit gedroht, ihn bloßzustellen, entweder vor Cassie oder seiner geschiedenen Frau.
Gemma räusperte sich, und ihm wurde bewußt, daß er sie hängengelassen hatte. »Entschuldigen Sie, Gemma. Haben Sie noch etwas?«
Gemma berichtete von ihrem Gespräch mit Helen North und fügte dann hinzu: »Wenn Mr. Lyle nicht eine verdammt gute Stellung hat, würde ich sagen, daß er ein wenig über seine Verhältnisse lebt - die Hypothek auf das Haus, eine Ehefrau, die nicht arbeitet, eine Tochter, die ein teures Internat besucht. Scheint übrigens ein ziemliches Ekel zu sein«, schloß sie.
»Noch so ein vollkommener Ehemann und Vater?«
»Und liebevoller Sohn.«
Kincaid hörte Papier rascheln, als Gemma in ihrem Heft blätterte.
»Wo sind Sie jetzt eigentlich?«
»In einer Zelle in St. Albans. Miles Sterrett von der Klinik, in der Hannah Alcock arbeitet, konnte ich noch nicht erreichen. Man hat mir gesagt, er sei krank...«
»Bleiben Sie dran, Gemma. Ich glaube, bei mir hat es gerade geklopft.«
Der Hauch eines Klopfens, so schwach, daß er meinte, es sich eingebildet zu haben. Als er die Tür öffnete, war niemand draußen. Er kehrte zum Telefon zurück.
»Gemma? Ich habe anscheinend schon Halluzinationen. Hören Sie, erledigen Sie heute, was Sie können, und kommen Sie dann so bald wie möglich hierher. Mir ist die ganze Sache nicht geheuer, auch wenn das vielleicht melodramatisch klingt.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, blieb Kincaid noch einen Moment stehen und überlegte. Er fand, es sei an der Zeit, sich noch einmal mit Angela Frazer zu unterhalten.
Kincaid war auf halbem Wege die erste Treppe hinunter, als er einen Fuß sah, einen Frauenfuß in einem pfirsichfarbenen Socken, auf der Treppe unter ihm. Nicht weit davon lag ein flacher Lederschuh. Mit einem Ruck blieb er stehen, dann raste er los.
Hannah Alcock lag auf den Stufen unter ihm.
16
Hannah lag halb auf der Seite, halb auf dem Rücken; ihr Kopf hing abwärts; ihre Arme waren ausgestreckt, als hätte sie versucht, ihren Sturz abzufangen. Obwohl Kincaid im ersten Moment vor Schreck wie gelähmt war, nahm sein Gehirn alle Details auf - ihr Pullover, pfirsichfarben wie der Strumpf, war hochgerutscht, und darunter war ein breiter Streifen heller Haut zu sehen. Diese unvorteilhaft entblößten Rippen hoben und senkten sich in gleichmäßigem Rhythmus.
Erleichterung überschwemmte Kincaid. Er schloß die Augen und atmete einmal tief durch, um wieder zur Ruhe zu kommen, dann kniete er neben ihr nieder. Obwohl ihr Kopf wie verrenkt erschien, hatte sie eine gesunde Gesichtsfarbe, und er glaubte nicht, daß ihre Bewußtlosigkeit sehr tief sei. Behutsam berührte er ihre Schulter.
»Hannah.« Sie antwortete mit einem leisen Laut, und ihre Lider flatterten. Er versuchte es noch einmal, etwas dringlicher. »Hannah.« Sie öffnete die Augen und sah ihn verständnislos an. »Hannah! Hannah!«
Ein Funke des Erkennens blitzte in Hannahs Augen auf. Sie drehte ein wenig den Kopf und stöhnte. »Was...« Noch einmal bewegte sie sich vorsichtig, als
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