01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
Last sah, jemand, um den man sich kümmern und sorgen mußte, dann war alles verloren.
Hannah wandte sich dem Hang hinter ihr zu, und bei dem Gedanken an den steilen Anstieg hinauf zum Fußweg geriet ihre sowieso nur halbherzige Entschlossenheit wieder ins Wanken. Ein Mann erschien am Beginn des Wegs und rutschte und schlidderte mit schwingendem Spazierstock und lichtblitzenden Brillengläsern den Hang hinunter zu ihr. Er hatte ein Tweedjackett an und einen Tirolerhut auf dem Kopf. Verblüfft erkannte sie Eddie Lyle.
Wie sonderbar, dachte sie. Sie hätte ihm eine Vorliebe für Wanderungen nicht zugetraut. Und wie lästig - er war ein lästiger kleiner Mann, und im Augenblick hatte sie überhaupt nicht die Nerven, sich auf ihn einzustellen. Aber fliehen konnte sie auch nicht - er hatte sie gesehen und wurde sogar noch schneller, während er ihr erfreut zu winkte.
»Wie nett, ein bekanntes Gesicht zu sehen«, sagte er, als er mit ihr auf gleicher Höhe war. »Ich dachte mir doch, daß ich auf dem Parkplatz Ihren Wagen gesehen hatte.«
Hannah fiel keine höfliche Erwiderung ein, sie beschränkte sich deshalb auf ein etwas dünnes Lächeln.
Er streckte tief Luft holend seine schmale Brust heraus und stieß geräuschvoll den Atem wieder aus. »Wunderschön hier, nicht wahr? Haben Sie die oberen Fälle auch schon gesehen? Ich muß sagen, ich finde diese hier am schönsten, ganz gleich, was die Leute sagen.«
Die letzte Bemerkung machte er in diesem Ton selbstgerechter Überlegenheit, den sie so unausstehlich fand, aber sie sagte nur »Ahja«, da sie das Gespräch nicht durch eine Widerrede verlängern wollte. Sie fragte sich, wie Janet Lyle diesen Mann ertrug. Sie machte doch einen ganz angenehmen Eindruck. Vielleicht, dachte Hannah mit einem heimlichen Lächeln, haut sie einfach ab, so oft es möglich ist.
Lyle dozierte unverdrossen weiter, zeigte mit seinem Spazierstock bald hierhin, bald dorthin, während er die geographischen Eigenheiten des Tals beschrieb. Hannah beschränkte sich auf einsilbige Antworten und musterte ihn neugierig. Sein Verhalten wirkte merkwürdig aufgeregt. Ständig drehte er den Kopf und blickte suchend die Hänge hinter ihnen hinauf und hinunter, während er sprach. Es war beinahe so, als hielte er nach jemand Ausschau.
Hannah wandte ihren Blick flußaufwärts und sah, daß die munter springende Familie jetzt auf die Holzstufen zuhielt, die von den Mittelfällen zum Fußweg hinaufführten. Das letzte Kind verschwand mit niedergeschlagen gesenktem Kopf hinter dichtbelaubten Bäumen.
»Schauen Sie. Gleich hier, in diesen Steinen.« Lyle beugte sich vor und richtete seinen Stock wie einen Zeigestab auf den Rand des Flusses. »Versteinerter Farn, wenn ich mich nicht sehr täusche.«
Ziemlich unwillig ging Hannah zu ihm hinüber und sah hinunter. Die Farnform in dem weißen glatten Stein hätte eine Fotografie sein können. Sie war in ihren Konturen so kräftig und so zart wie uralte Gebeine.
»Rufen Sie Peter Raskin an. Sagen Sie ihm...«
»Lassen Sie mich doch mitkommen«, unterbrach Gemma. »Ich rufe vom Auto aus an.«
Als Kincaid noch zögerte, kam Patrick Rennie aus dem Haus und näherte sich ihnen mit besorgter Miene. »Hallo!« rief er. »Haben Sie Hannah gesehen?«
Kincaid sah Gemma an. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Treiben Sie Raskin auf, und nehmen Sie dann Rennie mit. Er wird sowieso darauf bestehen, und ich werde ihn vielleicht brauchen, wenn Peter es nicht rechtzeitig schafft.«
Er nahm die Karte von der Kühlerhaube, setzte sich in seinen Wagen und ließ den Motor an.
»Aber was soll ich denn sagen?« Gemma legte die Hand auf den Rahmen des offenen Fensters.
»Sagen Sie, was Sie wollen. Hauptsache, Sie kommen.« Kincaid legte den Gang ein und fuhr los, überließ es Gemma, sich mit dem verblüfften Rennie auseinanderzusetzen. Als Kincaid zurückblickte, nahm Gemma gerade Rennie bei der Hand und sagte: »Er will Hannah suchen. Kommen Sie...« Ihre Stimme verlor sich, als er auf die Straße hinausfuhr. Auf Gemma war Verlaß. Sie würde schon alles in den Griff bekommen.
Nach der Art und Weise, wie Kincaid in die Kurven hineindonnerte, hätte man meinen können, er habe es auf den Großen Preis von Monte Carlo abgesehen. Die Karte lag ausgebreitet neben ihm auf dem Beifahrersitz, mit Tinte eilig eine gewundene Route eingezeichnet, damit er nicht lange suchen mußte. Bei Thirsk bog er von der
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