01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
Hauptstraße ab und konnte nur hoffen, daß ihn die direkteren, aber kleineren Straßen nicht aufhalten würden. Als er einen zufälligen Blick auf seine Hände warf, sah er, daß sie völlig verkrampft das Steuer umklammerten, und lockerte sie ganz bewußt. Er fuhr mit äußerster Konzentration, sah immer wieder auf die Karte, achtete auf jeden Wegweiser, und die ganze Zeit rasten seine Gedanken.
Er hätte es sehen müssen. All die kleinen Details hatten sich kaleidoskopartig zu einem Bild zusammengefügt. Konnten Kleinigkeiten - Widersprüche, Zufälle, Ungereimtheiten - sich zu einer so tödlichen Summe addieren? Eddie Lyle hatte seiner Frau offenbar erzählt, es sei ihm nicht gelungen, eine Woche in der Ferienzeit zu kaufen oder einzutauschen. Doch Cassie war, als Kincaid eine solche Schwierigkeit im Zusammenhang mit den Frazers ausgesprochen hatte, höchst erstaunt gewesen. Lyle hatte mehr als einmal angedeutet, daß seine Frau diesen Urlaub gewünscht hatte, während sowohl Janet als auch ihre Nachbarin es so dargestellt hatten, als sei dieser Urlaub einzig seine Idee gewesen. Gemma hatte gemeint, Lyle habe sich finanziell übernommen... lebe über seine Verhältnisse ... Kincaid erinnerte sich an das Gespräch, das er an jenem Tag im Blue Plate mitgehört hatte - als Janet ihre Sorge über Eddies Pläne geäußert hatte, ihre Tochter auf eine teure Universität zu schicken, die sie sich ihrer Meinung nach nicht leisten konnten... Eddies Tante war jung gestorben, an einer seltenen Krankheit, genau wie Miles Sterretts Frau... Miles’ verachteter Neffe, und Hannah, die den Weg zu Miles’ Vermögen blockierte.
Kincaid schüttelte den Kopf. Vielleicht waren das alles nur Hirngespinste, die seiner Angst um Hannah entsprangen. Aber dann fiel ihm ein, daß Eddie Lyle kurz nach Hannahs Abfahrt >abgebraust< war, und unwillkürlich umfaßte er das Lenkrad wieder fester.
Das Licht fiel in schrägen Strahlen auf die Höhen des Hochmoors, als Kincaid Wensleydale erreichte. Auf den geraden Strecken jagte er die Geschwindigkeit hoch, bis das Weideland zu beiden Seiten nur noch ein grünes Flimmern war. Von dem alten Städtchen Middleham nahm er nur bunte Fahnen auf mittelalterlichen Wehrmauern wahr und die dampfenden Hinterteile von Rennpferden, die um eine Ecke verschwanden. Wensley und das verschlafene West Witton, wo alte Männer und Mütter mit Kinderwagen stehenblieben und ihm nachstarrten, zwangen ihn, langsamer zu fahren - dann ein letztes Stück freier Straße nach Aysgarth.
Gerade als er aufatmen wollte, drängte vor ihm eine Herde Schafe auf die Straße. Fluchend hielt er an. Die Schafe ließen sich nicht hetzen. Blökend trotteten sie über die Straße, eine wogende Masse wolliger, weißer Leiber, die mit großen Klecksen roter und blauer Farbe gebrand-markt waren. Kincaid drückte auf die Hupe und schob die Säumigen mit seiner Stoßstange an. Der Schäfer drohte ihm mit seinem Stock, und das letzte Schaf machte endlich die Straße frei.
Nach einer letzten scharfen Kurve führte die Straße steil zur Brücke über die Ure hinunter, und dort befand sich linker Hand der Parkplatz für die Aysgarth-Fälle. Kincaid ließ den Midget auf dem ersten freien Plätzchen stehen und stieg aus. Hannahs grüner Citroen stand in einer Ecke für sich, einsam und leer.
Vor ihm befand sich der Fußweg zu den Oberen Fällen; hinter ihm, über die Straße und talabwärts, führte der Weg zu den Mittleren und den Unteren Fällen.
Er zögerte einen Moment, dann rannte er den oberen Fußweg hinauf, stieß im raschen Lauf Wanderer mit Rucksäcken genauso an wie Touristen auf der Jagd nach Sehenswürdigkeiten. Nach einer Weile verdunkelten die überhängenden Zweige alter Bäume den Weg, der Boden war feucht und moosbewachsen, rundherum war das Geräusch plätschernden Wassers zu hören. Dunkle Ahnungen überfielen ihn, aber als er wieder ins Freie gelangte, sah er auf den großen Steinen nur Familien beim Picknick und schwerbepackte Wanderer, die Rast machten. Von Hannah war nichts zu sehen.
Der Pfad über die Straße war so ruhig wie ein Feldweg auf dem Land. Auf der einen Seite dehnte sich offene Wiese, auf der anderen befand sich die dicht bewachsene Uferböschung. Eine Familie kam im Gänsemarsch eine Holztreppe herauf. Die Kinder waren naß und quengelig, die Eltern wirkten gestreßt.
»Aber ich möchte jetzt ein Eis, Mami. Du hast’s versprochen.« Die Stimme des kleinen Jungen
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