01_Der Fall Jane Eyre
ignorieren.«
»Dann müssen wir ihm zuvorkommen. Bloß wie?«
»Was hat Müller eigentlich genau gesagt?« fragte Finisterre.
Ich setzte mich. »Er hat geschrien: ›Er ist in Penderyn‹; sonst
nichts.«
»Sonst nichts?« erkundigte sich Bowden.
»Nein; als Schitt ihn fragte, welches Penderyn er meine, es gäbe
schließlich Hunderte davon, sagte Müller, es wäre ein Quiz.«
Bowden meldete sich zu Wort. »Was hat er gesagt? Quiz? «
»Ja, ›Quiz‹. Das hat er dann noch einmal wiederholt, und danach hat
er nur noch geschrien – er hatte wohl schreckliche Schmerzen. Die
Vernehmung ist natürlich aufgezeichnet worden, aber unsere
Chancen, an das Band zu kommen, sind wahrscheinlich gleich …«
»Vielleicht meinte er ja etwas anderes«, gab Bowden zu bedenken.
»Nämlich?«
»Ich spreche zwar nur ein paar Brocken Walisisch, aber gwesty heißt
Hotel.«
»Ach du grüne Neune«, rief Victor.
- 309 -
»Victor?« fragte ich, doch der durchforstete bereits den Berg von
Landkarten, die wir zusammengetragen hatten; alle Orte namens
Penderyn waren markiert. Er breitete einen großen Stadtplan von
Merthyr Tydfil über den Tisch und deutete auf einen Punkt zwischen
Justizpalast und Regierungsgebäude. Wir reckten die Hälse.
»Das Penderyn-Hotel«, sagte er grimmig. »Ich habe da meine
Flitterwochen verbracht. Einst war es dem Adelphi oder Raffles
ebenbürtig, aber seit den sechziger Jahren steht es leer. Wenn ich ein
sicheres Versteck suchen würde …«
»Da ist er!« sagte ich leicht nervös. »Da werden wir ihn finden.
Mitten in der walisischen Hauptstadt.«
»Und wie sollen wir da reinkommen?« fragte Bowden. »Wie sollen
wir unbemerkt nach Wales gelangen, in schwerbewachtes Gebiet
eindringen, uns Mycroft und das Manuskript schnappen und heil
wieder rauskommen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Man muß ja schon auf ein Visum mindestens vier Wochen
warten!«
»Das schaffen wir schon«, sagte ich langsam. »Sind Sie
wahnsinnig?« rief Victor. »So etwas würde Commander Hicks
niemals zulassen!«
»Es sei denn, Sie überreden ihn.«
»Ich? Warum sollte Braxton auf mich hören?«
»Weil ihm nichts anderes übrigbleibt.«
- 310 -
29.
JaneEyre
Jane Eyre erschien 1847 unter dem Pseudonym Currer
Bell, einem betont neutralen Namen, der Charlotte
Brontës Geschlecht bewußt verbarg. Der Roman war ein
großer Erfolg; William Thackeray nannte ihn »einen
Geniestreich«. Aber es gab auch Kritiker des Buches: G.
H. Lewes riet Charlotte, sich mit dem Werk Jane Austens
zu befassen und »ihre Schwächen nach dem Vorbild
jener großen Künstlerin zu korrigieren«. Charlotte hielt
dagegen, Miss Austens Werk sei – gemessen an dem, was
sie sich vorgenommen habe – recht eigentlich gar kein
Roman, und nannte es »einen höchst kultiviert bestellten
Garten ohne freie Flächen«. Das endgültige Urteil steht
noch aus.
W.H.H.F. RENOUF
-Die Brontës
Hobbes schüttelte den Kopf, weil er sich auf den Fluren von
Thornfield Hall nur schwer zurechtfand. Es war Nacht, und in
Rochesters Haus herrschte Totenstille. Der Flur lag im Dunkeln, und
Hobbes tastete nach seiner Taschenlampe. Ein orangefarbener
Lichtstrahl durchbohrte die Finsternis, während Hobbes sich langsam
über den Korridor im oberen Stockwerk schob. Vor sich sah er eine
angelehnte Tür, durch die der matte Flackerschein einer Kerze drang.
An der Tür blieb er stehen und spähte vorsichtig in das erleuchtete
Zimmer. Er sah eine in Lumpen gekleidete Frau mit wild zerzaustem
Haar, die gerade den Inhalt einer Petroleumlampe auf die Bettdecke
goß, unter der Rochester schlief.
Plötzlich wußte Hobbes, wo er war; gleich würde Jane kommen und
den Brand löschen, er wußte nur nicht, aus welcher Tür. Er wandte
sich um und fuhr vor Schreck fast aus der Haut, als er sich einer
- 311 -
hochgewachsenen Frau mit gerötetem Gesicht gegenübersah. Sie roch
stark nach Alkohol und funkelte ihn herausfordernd und mit kaum
verhohlener Verachtung an. So standen sie eine ganze Weile da;
Hobbes fragte sich, was tun, während die Frau leise schwankte, ihn
jedoch keine Sekunde aus den Augen ließ. Als Hobbes schließlich in
Panik geriet und seine Waffe ziehen wollte, ergriff die Frau
blitzschnell seinen Arm und umklammerte ihn so fest, daß Hobbes
sich sehr zurückhalten mußte, um nicht laut aufzuschreien vor
Schmerz.
»Was machen Sie hier?« zischte sie, und eine Augenbraue zuckte.
»Wer, in Gottes Namen, sind Sie?«
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