01_Der Fall Jane Eyre
trank, log oder schon vergeben war.
Wie gesagt, hatte mein Vater ein Gesicht, das eine Uhr stoppen
konnte; und genau das tat es denn auch, als ich eines schönen
Frühlingsmorgens in einem kleinen Café unweit meiner Arbeitsstelle
saß und ein Sandwich vertilgte. Die Welt flackerte, bebte kurz und
blieb stehen. Der Besitzer des Cafés erstarrte mitten im Satz, und das
Bild auf dem Fernsehschirm gefror. Vögel hingen bewegungslos am
Himmel. Autos und Straßenbahnen hielten schlagartig an, und ein in
einen Unfall verwickelter Radfahrer hing mit angstverzerrter Miene
einen guten halben Meter über dem Asphalt in der Luft. Auch die
Geräusche brachen ab; an ihre Stelle trat die matte Momentaufnahme
eines anhaltenden Summtons, der mit gleichbleibender Lautstärke die
Welt füllte.
»Na, wie geht es meiner hinreißenden Tochter?«
Ich drehte mich um. Mein Vater saß an einem Tisch und stand auf,
um mich liebevoll zu umarmen.
»Gut«, antwortete ich und drückte ihn. »Wie geht es meinem
Lieblingsvater?«
»Ich kann nicht klagen. Die Zeit ist eine hervorragende Ärztin.«
Ich starrte ihn einen Moment lang an.
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»Weißt du, was?« murmelte ich. »Ich habe den Eindruck, du wirst
von Mal zu Mal jünger.«
»Werde ich auch. Irgendwelche Enkelkinder in Aussicht?«
»Bei meinem Lebenswandel? Nie und nimmer.«
Mein Vater zog lächelnd eine Augenbraue hoch. »Da wäre ich mir
an deiner Stelle nicht so sicher.« Er reichte mir eine WoolworthPlastiktüte.
»Ich war neulich in ’78«, verkündete er, »und habe dir was
mitgebracht.«
Die Tüte enthielt eine Beatles-Single. Der Titel sagte mir nichts.
»Haben die sich nicht schon 1970 aufgelöst?«
»Nicht immer. Was macht die Kunst?«
»Nichts Besonderes. Echtheitszertifikate, Urheberrechtsverstöße,
Diebstahl …«
»… immer derselbe Mist, ja?«
»Ja.« Ich nickte. »Immer derselbe Mist. Was führt dich her?«
»Ich habe deine Mutter in drei Wochen besucht«, antwortete er mit
einem Blick auf den großen Chronographen an seinem Handgelenk.
»Aus den – ähem – üblichen Gründen. Nächste Woche will sie das
Schlafzimmer mauve streichen – würdest du bitte mit ihr sprechen und
ihr das ausreden? Die Farbe paßt nicht zu den Vorhängen.«
»Wie geht’s ihr?«
Er seufzte schwer.
»Bestens, wie immer. Mycroft und Polly lassen auch schön grüßen.«
Polly und Mycroft waren meine Tante und mein Onkel; ich liebte
sie sehr, obwohl sie den einen oder anderen Sprung in der Schüssel
hatten. Besonders Mycroft fehlte mir. Ich war schon seit Jahren nicht
mehr zu Hause gewesen.
»Deine Mutter und ich würden uns freuen, wenn du mal wieder
vorbeikämst. Sie findet, du nimmst deine Arbeit zu ernst.«
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»Das mußt du gerade sagen, Dad.«
»Autsch, das hat gesessen. Wie steht’s mit deinen
Geschichtskenntnissen?«
»Es geht.«
»Weißt du, wie der Herzog von Wellington starb?«
»Logisch«, antwortete ich. »Er wurde gleich zu Beginn der Schlacht
von Waterloo erschossen. Von einem französischen Scharfschützen.
Warum fragst du?«
»Ach, nur so«, brummte mein Vater mit Unschuldsmiene und
kritzelte etwas in sein Notizbuch. Er zögerte einen Moment.
»Dann hat Napoleon die Schlacht also gewonnen ?« fragte er
zweifelnd.
»Unsinn«, widersprach ich. »Feldmarschall Blücher hat rechtzeitig
eingegriffen und den Karren aus dem Dreck gezogen.« Ich kniff die
Augen zusammen. »Das ist Stoff der achten Klasse, Dad. Worauf
willst du hinaus?«
»Also, das ist doch ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht?«
»Was?«
»Daß sowohl Nelson als auch Wellington, zwei große englische
Nationalhelden, gleich zu Anfang ihrer bedeutendsten und
entscheidendsten Schlachten erschossen worden sein sollen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Daß wieder mal französische Revisionisten dahinterstecken
könnten.«
»Aber es hat am Ausgang der beiden Schlachten doch gar nichts
geändert«, beteuerte ich. »Wir haben beide Male gewonnen!«
»Davon, daß sie ihr Handwerk tatsächlich verstehen, habe ich nichts
gesagt.«
»Das ist doch lächerlich!« sagte ich. »Am Ende willst du mir noch
weismachen, daß dieselben Revisionisten 1066 König Harold
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ermorden ließen, um die Invasion durch die Normannen zu
unterstützen?«
Aber Dad lachte nicht. Statt dessen fragte er erstaunt: »Harold?
Ermordet? Wieso?«
»Ein Pfeil, Dad. Ins Auge.«
»Ein englischer oder ein französischer?«
»Das ist nicht überliefert«,
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