01_Der Fall Jane Eyre
hundertprozentig Bescheid wußte, waren SO-9, die
Sektion TerrorBekämpfung, und SO-1, die Dienstaufsicht – die SpecOps-Polizei, die dafür sorgte, daß wir nicht aus der Reihe tanzten.
»SO-3?« wiederholte ich. »Wofür sind die denn zuständig?«
»Für die bizarren Fälle.«
»Ich dachte, das macht SO-2?«
»Die erledigen die noch bizarreren Fälle. Ich habe meinen Verlobten
gefragt, aber er ist leider nicht dazu gekommen, mir eine Antwort zu
geben – wir waren sozusagen beschäftigt. Schau dir das an.« Paige
hatte mich in den Saal mit den Manuskripten geführt. Die Glasvitrine,
in der Martin Chuzzlewit gelegen hatte, war leer.
»Gibt’s was Neues?« fragte sie eine Beamtin der Spurensicherung.
»Nein.«
»Handschuhe?« erkundigte ich mich.
Die SpuSi stand auf und streckte sich; sie hatte keinerlei Abdrücke
gefunden.
»Nein; und genau das ist das Komische daran. Es sieht aus, als ob
sie den Kasten gar nicht angefaßt hätten; keine Handschuhe, kein
Tuch – nichts. Wenn ich’s nicht besser wüßte, würde ich sagen, der
Kasten ist gar nicht geöffnet worden und das Manuskript liegt noch
darin!«
Ich inspizierte die Vitrine. Sie war fest verschlossen, und keines der
anderen Exponate hatten die Diebe auch nur angerührt. Die Schlüssel
wurden getrennt aufbewahrt und sollten jeden Augenblick aus London
eintreffen.
»Hoppla, das ist ja merkwürdig …«, murmelte ich und beugte mich
vor.
»Hast du was entdeckt?« fragte Paige erwartungsvoll.
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Ich deutete auf eine Stelle an einer der Seitenscheiben, die kaum
merklich pulsierte. Der Bereich hatte in etwa die Ausmaße des
Manuskripts.
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Paige. »Ich dachte, das
Glas hat einen Fehler.«
»Gehärtetes Panzerglas?« sagte ich. »Auf keinen Fall. Und bei der
Montage war das noch nicht da; das kannst du mir glauben, ich war
dabei.«
»Was dann?«
Als ich über das harte Glas strich, kräuselte die blanke Oberfläche
sich leicht. Mir lief ein Schauer über den Rücken, und mich beschlich
ein unangenehmes Gefühl der Vertrautheit, als hätte mich ein ehemals
verhaßter Mitschüler nach Jahren wie ein alter Freund begrüßt. »Diese
Handschrift kommt mir irgendwie bekannt vor, Paige. Ich habe das
dumpfe Gefühl, daß ich den Täter kenne.«
»Du bist seit sieben Jahren LiteraturAgentin, Thursday.«
Ich wußte, was sie damit sagen wollte. »Seit acht, und du hast ganz
recht – du kennst ihn vermutlich auch. Könnte Lamber Thwalts
dahinterstecken?«
»Er könnte durchaus, wenn er nicht noch hinter Gittern säße – für
die Fälschung von Gewonnene Liebesmüh muß er noch vier Jahre
schmoren.«
»Was ist mit Keens? Das ist genau seine Kragenweite.«
»Milton weilt leider nicht mehr unter uns. Er hat sich in der
Bibliothek von Parkhurst eine Analepsie geholt. Und war nach
vierzehn Tagen mausetot.«
»Hmm.«
Ich zeigte auf die beiden Videokameras. »Wen haben die gesehen?«
»Nichts und niemanden«, antwortete Paige. »Ich kann dir die
Bänder gern vorspielen, aber danach bist du genauso schlau wie
zuvor.«
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Sie zeigte mir das vorhandene Material. Der diensthabende
Wachmann wurde auf dem Revier vernommen. Die Kollegen hofften,
daß die Sache auf das Konto eines Angestellten ging, doch danach sah
es nicht aus; der Wachmann war ebenso fassungslos wie alle anderen.
Paige spulte das Video zurück und drückte auf PLAY. »Paß genau
auf. Der Recorder geht die fünf Kameras nacheinander durch und
nimmt jeweils fünf Sekunden auf.«
»Das heißt, niemand bleibt länger als zwanzig Sekunden
unbeobachtet.«
»Du hast’s erfaßt. Siehst du? Da haben wir das Manuskript …« Sie
zeigte auf das Buch, das gut sichtbar in der Bildmitte lag, als der
Videorecorder auf die Kamera über dem Eingang schaltete. Es war
alles ruhig. Dann weiter zur Innentür, durch die jeder Einbrecher hätte
kommen müssen; die anderen Eingänge waren vergittert. Dann kam
der Korridor, danach das Foyer; schließlich wechselte der Apparat in
den Manuskriptsaal zurück. Paige drückte die PAUSE-Taste, und ich
beugte mich vor. Das Manuskript war verschwunden.
»Zwanzig Sekunden Zeit, um einzusteigen, den Kasten zu knacken,
Chuzzlewit abzugreifen und die Fliege zu machen? Ausgeschlossen.«
»Glauben Sie mir, Thursday, genau so ist es gewesen.« Letztere
Bemerkung stammte von Boswell, der mir über die Schulter geblickt
hatte. »Ich habe keine Ahnung, wie es die Kerle geschafft
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