01_Der Fall Jane Eyre
erwiderte ich, genervt von seinen
absurden Fragen.
»Ins Auge, sagst du? – Die Zeit ist aus den Fugen«, murmelte er und
machte sich noch eine Notiz.
» Was ist aus den Fugen?« fragte ich, weil ich ihn nicht verstanden
hatte.
»Nichts, nichts. Wie gut, daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam
…«
»Hamlet?« fragte ich, als ich das Zitat erkannte.
Statt einer Antwort hörte er auf zu schreiben, klappte das Notizbuch
zu und massierte sich geistesabwesend mit den Fingerspitzen die
Schläfen. Die Welt ruckelte eine Sekunde weiter und blieb dann
wieder stehen. Nervös sah mein Vater sich um.
»Sie sind mir auf den Fersen. Danke für deine Hilfe, Schatz. Wenn
du deine Mutter siehst, sag ihr, daß sie das Schlafzimmer nicht mauve
streichen soll.«
»Alles außer mauve, stimmt’s?«
»Stimmt.«
Lächelnd berührte er meine Wange. Ich bekam feuchte Augen; diese
Besuche waren viel zu kurz. Er spürte, daß ich traurig war, und
schenkte mir ein Lächeln, wie es sich wohl jedes Kind von seinem
Vater wünscht. Dann sagte er: »Denn ich schaute das Vergangene, so
weit das SpecOp-Auge reicht …«
Er hielt inne, und ich beendete die Strophe des alten ChronoGarden-Liedes, das mir mein Vater als kleines Mädchen immer
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vorgesungen hatte: »… und die Welt lag mir zu Füßen, einem Meer
von Möglichkeiten gleich!«
Und dann war er weg. Ein Ruck ging durch die Welt, als die Uhr
wieder in Gang kam. Der Barmann beendete seinen Satz, die Vögel
flogen in ihre Nester, der Fernseher meldete sich mit einem
ekelerregenden SmileyBurger-Spot zurück, und der Radfahrer auf der
anderen Straßenseite landete mit einem dumpfen Schlag auf dem
Asphalt.
Alles ging weiter, als sei nichts gewesen. Niemand außer mir hatte
Dad kommen und gehen sehen.
Ich knabberte abwesend an meinem Krabbensandwich und nippte
von Zeit zu Zeit an einer Tasse Mokka, die eine Ewigkeit zu brauchen
schien, um auf Trinktemperatur abzukühlen. Es war nicht viel Betrieb,
und Stanford, der Wirt, spülte Geschirr. Ich legte meine Zeitung weg,
um ein wenig fernzusehen, als das Logo des Toad News Network auf
dem Bildschirm erschien.
Toad News, ein Tochterunternehmen der Goliath Corporation, war
der größte Nachrichtensender Europas. Er versorgte sein Publikum
rund um die Uhr mit aktuellen Meldungen; da konnten die nationalen
Sender beim besten Willen nicht mithalten. Goliath verlieh Toad
jedoch nicht nur Stabilität und finanzielle Sicherheit, sondern auch
eine leicht anrüchige Note. Vielen mißfiel der Monopolcharakter des
Konzerns, und das Toad News Network mußte ein gerüttelt Maß an
Kritik einstecken, obwohl der Sender wiederholt bestritt, daß die
Muttergesellschaft das Sagen hatte.
»Hier«, dröhnte die Stimme des Ansagers, begleitet von
dramatischer Musik, »ist das Toad News Network. Ihr
Nachrichtensender mit Meldungen aus aller Welt, aktuell, informativ
und kompetent, JETZT!«
Die Nachrichtensprecherin kam ins Bild und lächelte freundlich in
die Kamera.
»Hier sind die 12-Uhr-Nachrichten vom Montag, den 6. Mai 1985,
mein Name ist Alexandria Belfridge. Die Krim«, verkündete sie,
»geriet diese Woche einmal mehr ins Blickfeld internationaler
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Aufmerksamkeit, als die Vereinten Nationen die UN-Resolution
PN17296 verabschiedeten, die England und die Russische
Reichsregierung zu neuerlichen Verhandlungen über die Zukunft der
Halbinsel bewegen soll. Während der Krimkrieg in sein 131. Jahr
geht, drängen politische Interessengruppen im Inland und Ausland auf
ein friedliches Ende der Feindseligkeiten.«
Ich schloß die Lider und stöhnte leise vor mich hin. Ich hatte meine
patriotische Pflicht anno ’73 erfüllt und die traurige Wahrheit des
Krieges jenseits von Glanz und Gloria mit eigenen Augen gesehen.
Die Hitze, die Kälte, die Angst und den Tod. Die Sprecherin fuhr mit
einem unverkennbar chauvinistischen Unterton fort: »Als es den
englischen Streitkräften 1975 gelang, die Russen aus ihren letzten
Stellungen auf der Krim zu vertreiben, galt dies als beispielloser
Triumph über einen übermächtigen Feind. Seit damals sind die
Fronten jedoch verhärtet, und Sir Gordon Duff-Rolecks faßte die
Stimmung im Lande anläßlich einer Friedenskundgebung am
Trafalgar Square folgendermaßen zusammen …«
Aufnahmen von einer großen und überwiegend friedlichen
Demonstration im Zentrum Londons wurden eingespielt. DuffRolecks stand auf einem Podium und sprach in einen
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